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Ausgabe:

1878 Nr. 11

Spalte:

266-268

Autor/Hrsg.:

Rocholl, R.

Titel/Untertitel:

Die Philosophie der Geschichte. Darstellung und Kritik der Versuche zu einem Aufbau derselben 1878

Rezensent:

Zahn, Theodor

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26s

Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. II.

266

p. 123) hätte man eine kritifchere und refervirtere Stellung
auch diefem darwiniftifchen ,Grundgedanken' gegenüber
erwarten dürfen. Denn derfelbe ift doch auch nichts
Befferes als eine unbewiefene und der gegenwärtigen Erfahrung
geradezu widerfprechende Hypothefe, die wohl
dem idealiftifchen Wunfche einer einheitlichen Naturerklärung
fehr plaufibel erfcheinen mag, aber von einer
nüchternen Kritik ftets in ihre Grenzen zurückgewiefen
werden mufs. Im Uebrigen ift der Defcendenzgedanke
an fich nur das leere Gerippe des Darwinismus, das erft
durch Entwickelungs- und Selectionstheorie Fleifch und
Blut bekommt.

Wenn wir hier, wo die Beurtheilung von dem Ver-
hältnifs zu Religion und Sittlichkeit noch ganz abfieht,
an dem Verfaffer als naturwiffenfchaftlichem, um nicht
zu fagen naturphilofophifchem Dilettanten die Nüchternheit
und kriüfche Referve, die er fonft überall an den
Tag legt, in einem einzelnen Punkte vermiffen, fo tritt das
ganz in den Hintergrund gegenüber der Anerkennung,
die wir ihm als Theologen und Apologeten zollen müf-
fen. Der zweite Theil feines Werkes ift ein nachahmens-
werthes und einleuchtendes Beifpiel, wie eine gefunde
und nüchterne Apologetik des chriftlichen Glaubens aufzuraffen
und zu geftaltcn ift. Er behandelt hier die Stellung
der im erften Theil fkizzirten und beurtheilten
Theorieen zum chriftlichen Glauben und zur chriftlichen
Moral. Die erfte ,hiftorifch-kritifche' Abtheilung diefer
Auseinanderfetzung geht auf die verfchiedenen Vertreter
des Darwinismus und ihr Verhältnifs zum Chriftenthum
ein; fchon hier wird, gewiffermafsen auf empirifchem
Wege, insbefondere durch die Perfönlichkeiten gerade
der Urheber der qu. Theorieen die Möglichkeit des
Friedens zwifchen Religion und Darwinismus' nachge-
wiefen. Die zweite ,analytifche' Abtheilung enthält
als den eigentlichen Kern der Unterfuchung die Anflehten
des Verf.'s felbft in diefer Hinficht. Die verfchiedenen
darwiniftifchen Theorieen und Probleme werden
hier durchweg nur als Möglichkeiten behandelt
und mit diefen als bewiefen nur fupponirten Gedanken
die Auseinanderfetzung vorgenommen. In der That
fcheint uns das ein fehr praktifcher Weg, um zu einem
richtigen und nüchternen Urtheil in diefer Beziehung zu
gelangen; alle fonft in diefer Hinficht gemachten Ver-
fuche verwirren fich durch die überall eingeftreute Kritik
der darwinfehen Theorieen felbft. In dem vorliegenden
Werke ift diefe Kritik bereits vorweggenommen und der
Verf. kann jetzt gänzlich davon abfehen. — Gegenüber
einer unklaren Vermifchung zweier Gebiete betont er
mit Recht die fundamentale Verfchiedenheit und Sclb-
ftändigkeit der naturwiffenfehaftlichen Erkenntnifs und
des chriftlichen Glaubens und kommt zu dem Endreful-
tat, dafs der letztere dem darwiniftifchen Forfchen ruhig
zufchauen könne, weil — abgefehen von der in ihrer Un-
haltbarkeit nachgewiefenen Eliminirung des Zweckbegriffs
— der Theismus und das pofitive Chriftenthum
von den darwiniftifchen Theorieen im Grunde gänzlich
unberührt bleiben (vgl. p. 299). Die Polemik einzelner
Darwiniften gegen das Chriftenthum entflammt ja in der
That nicht ihrem Darwinismus, fondern ganz anderen
Urfachen.

Mit unferen Einzelbedenken wollen wir auch hier
nicht zurückhalten, um fo weniger, als der Werth des Ganzen
dadurch in unferen Augen durchaus nicht beeinträchtigt
wird. Mit feiner künftlichen und exegetifch unhaltbaren
Erklärung der Schöpfungstage als Perioden (p. 284,
288 f.) wird der Verf. u. E. feinem eigenen apologeti-
fchen Kanon untreu und lenkt in das alte Fahrwaffer
der Harmoniftik zurück. Dahin gehört ferner die ge-
fammte Tendenz, die biblifche Schöpfungsgefchichte
geradezu als mit dem darwiniftifchen .Grundgedanken'
harmonirend aufzufaffen p. 245,297, 299, vgl. 242, 257, 263).
Ref. wird durch dergleichen wohlgemeinte Vermittelungs-
verfuche immer an das klägliche Fiasko erinnert, welches
die Apologetiker diefes Schlages mit ihrer Erklärung
des Verhältnifses von Sonne und Licht in Folge
der Entdeckung der Spectralanalyfe gemacht haben.

Doch das find Einzelheiten. — Möchten die nüchternen
und von ächt chrifUichem und echt wiffenfehaft-
lichem Geift zugleich getragenen Anfchauungen des be-
fprochenen Werkes weite Verbreitung unb offenen Eingang
finden!

Saufedlitz bei Bitterfeld. Th. Weber.

Rocholl, R., Die Philosophie der Geschichte. Darftellung
und Kritik der Verfuche zu einem Aufbau derfelben.
Von der philofophifchen Facultät der Univerfität Göttingen
gekrönte Preisfchrift. Göttingen 1878, Van-
denhoeck & Ruprecht. (XII, 399 S. gr. 8.1 M. 8. —

Ein Werk wie diefes, worin Alles, was feit dem
frühelten Alterthum an Verfuchen einer Philofophie der
Gefchichte geleiftet worden ift, einer kritifchen Befprech-
ung unterzogen wird, fordert von feinem Beurtheiler eine
annähernd gleiche Kenntnifs der philofophifchen Literatur
aller Zeiten, wie der Verfaffer fie bekundet; und das
Urtheil von Philofophen und Kennern der Gefchichte
der Philofophie wie Lotze und Baumann, welche dies
Werk als preiswürdige Löfung einer von ihnen geftellten
Aufgabe anerkannt haben, enthebt dasfclbe von vornherein
in den wefentlichften Beziehungen dem Urtheil
des Recenfenten. Es wird genügen, einerfeits den Theologen
das Studium desfelben angelegentlichft zu empfehlen
und andererfeits auszudrücken, was gerade der
theologifche Lefer an diefer Vieles umfaffenden Arbeit
vermifst. Den Theologen berührt vor Anderen die Frage,
ob es der von der Offenbarung unabhängigen Forfchung
gelungen ift oder muthmafslich je gelingen wird, den
gefchichtlichen Weltlauf, foweit diefe Forfchung ihn
überfchaut, als Ganzes und in den Hauptzügen feiner
Entwicklung zu deuten, ihm einen befriedigenden oder
doch erträglichen Sinn abzugewinnen. Denn das Object
der chriftlichen Theologie exiftirt entweder nur in der
Einbildung, oder es ift auch mehr als eine gefchichtliche
Thatfache, neben welcher es andere Exemplare derfelben
Gattung gefchichtlicher Thatfachen giebt; es ift fofort
auch das Herz der Welt und ihrer Gefchichte, von wo
alle Lebensbewegung ausgeht und wohin fie zurückftrömt.
Darum ift jede Theologie, welche dem Umfang ihres
Objects gerecht zu werden ftrebt, eine Deutung des
Weltlaufs, eine .Philofophie der Gefchichte'. Bringt es
die nichttheologifche Forfchung gleichfalls zu einer fol-
chen Deutung, welche vielleicht unfertig wie die Gefchichte
felbft doch in ihren Fragmenten Zuftimmung
erzwingt und zugleich die Hoffnung auf eine gleichartige
Ergänzung zu einem befriedigenden Gefammtbild erweckt
, fo wird die Theologie daran nicht gleichgiltig
und unbclehrt vorübergehen können. Sie wird darin Beiträge
zur Löfung einer auch theologifchen Aufgabe erblicken
. Sind erfolgreiche Verfuche einer nichttheolo-
gifchen Philofophie der Gefchichte nicht aufzuweiten, fo
wird der Theologie damit eine Lücke im allgemeinen
Wiffen aufgezeigt, welche fie hoffen darf für diejenigen,
welche ihre Prämiffen gelten laffen, einigermafsen auszufüllen
.

Rocholl zeigt in der Schlufsbetrachtung nicht nur,
wie wenig es bisher zu einer Philofophie der Gefchichte
gekommen fei, fondern zugleich auch wie wenig Hoffnung
auf das Zuftandekommen einer folchen vorhanden
fei. Wenn trotzdem das Werk nicht im Ton der Verzweiflung
an der Löfung der Aufgabe endigt, fo erklärt
fich das daraus, dafs der Verf. zwar völligen Verzicht
auf .Gefchichtsphilofophie als vorausfetzungslofe und
exaete Wiffenfchaft' fordert (S. 39U, dagegen aber eine
Möglichkeit fleht, unter offenem Verzicht auf eine folche,
,mit Zuhülfenahme der Deduction, von benimmt ge-