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Ausgabe:

1878 Nr. 8

Spalte:

187-188

Autor/Hrsg.:

Kastner, Lorenz

Titel/Untertitel:

Martin Deutinger’s Leben und Schriften. Beitrag zur Reform der Philosophie und Theologie. 1. Band 1878

Rezensent:

Wetzel, Paul

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 8.

188

fachen Hinweifungen von einer Schrift auf die andere,
haben etwas fo Verwirrendes, dafs, wer nicht im Original
fich Auffchlufs holen kann, ein klares Bild nicht gewinnen
wird. Wer aber des Dänifchen kundig ift, wird lieber
aus der Quelle felbft fchöpfen, als aus einer fo wunderlich
geordneten Zufammenftellung. Befonders gilt dies
von der unter Nr. 2 angeführten Schrift, deren abfurd
klingender Titel fchon eher abfchrecken als anziehen
dürfte. In Nr. 1 find fchätzenswerthe Auszüge aus K.'s
Tagebüchern gegeben, die zur Aufklärung mancher Partien
feines Lebens wichtige Beiträge liefern und eine
Ergänzung bilden zu der früher erfchienenen ,Verfaffer-
Exiftenz'. Angehängt ift die kurze aber charakteriftifche
Abhandlung ,der Einzelne', in der K's. Grundanfchauung
bezeichnend hervortritt in den Sätzen: ,Die Menge ift
die Unwahrheit; ein Einzelner werden ift die Wahrheit.
Der Einzelne ift die nothwendige Kategorie, um das
Chriftenthum in der Chriftenheit einzuführen'. Nr. 3
endlich enthält drei fromme Reden und drei Beichtreden.
Hier läfst der Herausgeber, wenn er auch einige Kürzungen
und einige Verfchiebungen in der Ueberfetzung
fich erlaubt hat, im Wefentlichen doch feinen Autor in
feinem eigenen Zufammenhang reden. Nächft den früher
erfchienenen zwölf Reden dürfte diefe Gabe dem Ueber-
fetzer am meiften gedankt werden. Denn die hier zu-
fammengeftellten Reden find wohl geeignet, von der
haarfcharfen Dialektik, von dem Reichthum und der
Tiefe der Gedanken, von dem rückfichtslofen fittlichen
Ernft K.'s — aber auch von feiner Hinneigung zum
Paradoxen eine deutliche Vorftellung zu geben. Als
Beweis für Letzteres — denn für das andere dürfte es
keines Beweifes bedürfen — ftehe hier ein Satz aus der
zweiten Beichtrede, in der Kierkegaard fich zu der
Aeufserung hinreifsen läfst: ,Gefichert, ewig gefichert
ift die Einfalt nur, wenn fie einfältig fich betrügen läfst,
wie klar fie auch den Betrug durchfehaut'! (S. 57). Ref.
kann nur fchliefsen mit dem Wunfche, dafs der Herausgeber
bei etwaigen weiteren Veröffentlichungen auf dem
mit diefer letzten Schrift wieder betretenen Wege fortgehen
und eine oder die andere der bedeutendften
Schriften K's. ganz und unverkürzt dem deutfehen Lefer
zugänglich machen möge.

Nuffe. H. Lindenberg.

Kastner, Prof. Dr. Lorenz, Martin Deutinger's Leben und
Schriften. Beitrag zur Reform der Philofophie und
Theologie. [In zwei Bänden.] 1. Band. München
1875, Lindauer. (XV, 862 S. gr. 8.) M. 13. —

Das ziemlich umfangreiche Werk, deffen erfter Band
uns vorliegt, fchildert das Leben und Wirken des katho-
lifchen Philofophen M. Deutinger. Als biographifche
Leiftung ift es ohne Werth. Der Verfaffer tritt zwar
darin als ftreitbarer Kämpfer wider den Ultramontanismus
fehr anfpruchsvoll auf, zeigt aber wenig Urtheil und
Darftellungsgabe. Bei weitem den gröfsten Theil feines
Buches nehmen Bruchftücke aus den Briefen Deutinger's
und trockene Analyfen feiner Schriften u. Vorlefungen ein.
Von Intereffe auch für proteftantifche Lefer ift nur der
Mann, den es feiert, ein geiftvoller Gelehrter von um-
faffendem Wiffen und idealem Streben.

M. Deutinger gehört der Reihe der Männer an,
welche mit regem Eifer für geiftigen und religiöfen Fort-
fchritt innerhalb der «katholifchen Kirche fich bemüht
und ihre Kraft in dem ausfichtslofen Streben verzehrt
haben, das moderne Geiftesleben mit dem Katholicismus
zu verföhnen. Eines Müllers in Oberbaiern Sohn, ift er
auf einem katholifchen Knabenfeminar vorgebildet worden
und nach theologifchen und philofophifchen Studien
zuerft als Priefter und Prediger, dann als Lehrer der
Philofophie und ungemein fruchtbarer und vielfeitiger
Schriftfteller thätig gewefen. Als begeifterter Schüler

Schelling's und Franz v. Baader's, zu deren Füfsen er
in München gefeffen, ftrebt er von Anfang an danach,
den inneren Zufammenhang der Dinge, nicht ihre Einzelheiten
zu erfaffen, ,feinen Geift zu erfüllen mit dem
Waffer natürlicher Erkenntnifs in dem Vertrauen, dafs
der Herr fie verwandeln werde in den guten Wein der

I göttlichen Erkenntnifs'. Und merkwürdig ift es, wie
viele Seiten menfehlichen Wiffens er in diefem Streben
in den Kreis feiner Studien gezogen. In alter und
neuerer Philofophie, Kunftgefchichte, Poetik, claffifcher
und moderner Literatur ift er zu Haufe und verbindet
mit ftaunenswerther Belefenheit ein feines und geiftvolles
Urtheil. Als Docent der Philofophie hat er zuerft in
Freifing von 1841—46 gewirkt und nach dem Zeugnifs
feines Biographen durch feine unvergleichliche Lehrgabe

I fich ungetheilte Bewunderung erworben. An der Uni-
verfität München hat er als Profeffor Philofophie docirt,
angeblich mit einem Erfolge, wie er feit Schelling's Abgang
unerhört gewefen. Indefs war feines Bleibens da-
felbft nicht lange. Im Jahr 1847 ward er zugleich mit
Döllinger, Lafaulx, Höfler u. a. feiner Profeffur enthoben
und an das Lyceum in Dillingcn verfetzt. Unbefriedigt
von feinem amtlichen Wirken in diefer Stellung und
durch Augenleiden an feinen Studien vielfach gehindert
, bemüht er fich vergeblich, wieder in einem geift-

I liehen Amte Anftellung zu finden und erfährt von

j Seiten der herrfchenden Regierungspartei mannigfache
Zurückfetzung und Anfeindung. Unermüdlichen Flcifs
hat Deutinger in feiner fchriftftellerifchen Thätigkeit bc-
wiefen. Die verfchiedenften philofophifchen Disciplinen
find von ihm in Lehrbüchern behandelt worden; in feinem

; Werke: der Geift der chriftlichen Ueberlieferung, hat er
feine theologifchen Ueberzeugungen dargeftellt; litera-
rifche und zeitgefchichtliche Fragen hat er als gewandter
Effayift in Zeitungsartikeln- befprochen; feine Reifen
nach Italien und nach Paris mit feiner Beobachtungsgabe
befchrieben; endlich als Redacteur der ,Siloah, Zeitfchrift
für religiöfen Fortfehritt inner der Kirche', für welche
er die meiften Artikel felbft verfafst hat, weitere Kreife
für den Gedanken feines Lebens zu intereffiren verflicht,
die Erfcheinungsformen des Geiftes Wiffenfchaft, Kunft
und Gefchichte in ihrem inneren Verbände mit der Religion
und dem Katholicismus zu erkennen. Als gläubiger
Katholik hält Deutinger an der Ueberzeugung feft,
dafs alle Philofophie zuletzt nur zur Rechtfertigung der
katholifchen Lehren und Inftitutionen führen muffe. Der
katholifchen Kirche bleibt er in der hingebendften Liebe
zugethan, fo wenig er auch gegen ihre Schäden und
ihre Reformbedürftigkeit fich verblendet. Dafs er von
diefem Standpunkt aus bei aller Weitherzigkeit und
Milde des Urtheils die Bedeutung der Reformation nicht
zu würdigen vermochte, ift begreiflich genug. In der
Kirche, der fein Herz angehört, ift er als ein Rufender
in der Wüfte, wie er fich felbft zu nennen liebt, verein-
famt und unverftanden geblieben. Das Schickfal, das
Deutinger gefunden, die Indolenz des katholifchen Klerus
, die ihm entgegengetreten ift, die Anfeindung, die
er feit feiner Verdrängung aus München fort und fort
erfahren und die Einficht von der Erfolglofigkeit feines
Strebens, die fich ihm endlich felbft aufdrängt, find ein
tragifcher Zug in feiner Lebensgefchichte. Das Werk
feines Biographen tritt als Beitrag zur Reform der Philofophie
und Theologie auf; uns mag's zum Zeugnifs
dafür dienen, dafs der Katholicismus der Gegenwart
einer Reform von innen heraus wohl bedürftig, aber
nicht mehr fähig ift.

Taucha. Wetzel.