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Ausgabe:

1877

Spalte:

165-166

Autor/Hrsg.:

Wünsche, August

Titel/Untertitel:

Der lebensfreudige Jesus der synoptischen Evangelien im Gegensatze zum leidenden Messias der Kirche 1877

Rezensent:

Schürer, Emil

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Seite 1

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Thcologifchc Literaturzeitung. 1877. No. 7.

166

Menge Material herbeigezogen, das gar nicht zur Sache
gehört. Dafs der ganze Stoicismus aus dem Judenthum
abgeleitet wird, haben wir bereits gefehen. Ein würdiges
Seitenflück hiezu ift es, wenn S. 568 ff. ausführlich dar-
gethan wird, dafs auch Plato vom Judenthum geborgt
habe. Aber auch in Einzelfragen, die mit dem Haupt-
tliema gar nicht zufammenhängen, ift der Verf. oft fehr
unglücklich Die Pfalmen Salomo's, die anerkannter-
mafsen in die Zeit des Pompejus gehören, verlegt er in
die Zeit Hadrian's (S. 329 f.); die pfeudofophokleifchen
Verfe, welche Clemens Alcxandrinus (Strom. V, 14, 113)
aus Pfeudo-Hekatäus, einem ficher vorchriftlichcn Schrift-
fteller, entnommen hat, befpricht er unter den Wirkungen
des Aufftandes unter Hadrian (S. 337), u. A. m. Ueber-
haupt macht der Verf. oft den Eindruck eines wiffen-
fchaftlichen Robinfon. Las Rohmaterial fleht ihm in
grofser Fülle zur Verfügung. Aber was durch die Arbeit
Anderer aus diefem Rohmaterial bereits gewonnen
worden ift, fchcint ihm zu einem grofsen Theil unzugänglich
gewefen zu fein. Und fo ift natürlich auch der
Erfolg feiner eigenen Arbeit vielfach ein fehr unvollkommener
geblieben. — Einen feltfamen Eindruck macht
es endlich, dafs alle Citate aus griechifchen und latei-
nifchen Schriftftellern durchgängig in englifcher Ueber-
fetzung mitgetheilt werden.

Leipzig. E. Schürer.

Wünsche, Dr. Aug., Der lebensfreudige Jesus der fynop-
tifchen Evangelien im Gegenfatze zum leidenden
Meffias der Kirche. Leipzig 1876, Mentzel. (XII,
446 S. gr. 8.) M. 7.20

Im Jahre 1870 erfchien: Wünfche, Die Leiden des
Meffias in ihrer Uebereinftimmung mit der Lehre des
A. T. und den Ausfprüchen der Rabbinen etc. Der
Standpunkt, den der Verf. hier vertrat, war der einer
fehr entfehiedenen, freilich mehr rabbinifchen als chrift-
lichen Orthodoxie. Einen ganz anderen Ton fchlägt er
nun im J. 1876 an. Da hören wir im Vorwort (S. VI f.),
dafs das Jefusthum nur ein Moment im weltgcfchicht-
lichen Entwickelungsprocefs der religiös fittlichen Idee
überhaupt ift. Es fcheint dem Verf. ,grundirrig, wenn die
kirchliche Dogmatik noch immer behauptet, mit Jefu fei die
höchfte Stufe religiös fittlicher Pürkenntnifs erreicht'. ,Ein
folches Urtheil zeugt von grofser Befangenheit'. Wie
man ficht, ift die Bekehrung des Verf. zu liberalen Ideen
eine fehr gründliche. Es wird aber nicht gerade ein
günftiges Vorurtheil für die Selbftändigkeit und Solidität
feiner wiffenfchaftlichen Ueberzeugungen erwecken,
wenn man wahrnimmt, wie er innerhalb weniger Jahre
lieh ganz entgegengefetzten Anfchauungen in die Arme
wirft. Und diefes ungünftige Vorurtheil wird denn auch
durch eine nähere Bekanntfchaft mit feinem neueften
Werke nur beftätigt.

Der Zweck, um deffentwillen das Buch gefchrieben
ift, ift der: das Chriftenthum von dem Vorwurf zu reinigen
, dafs es die Erde als ein Jammerthal betrachte. Der
Verf. will ,die das kirchlich dogmatifche Jefusbild um-
fchliefsende duftere Leidenshülle, welche eine freie und
freudige Betrachtung geradezu unmöglich macht, abheben'.
Sein Jefus ift ,ein Held von erhabenfter, fiegesgewiffer
Heiterkeit' (Vorw. S. IX), ,ein durchaus heiterer, fröhlicher
und fiegesfreudiger Menfch' (S. 24). Diefer einzige
Gedanke von dem .lebensfreudigen Jefus' wird denn
nun auf mehr als 400 Seiten mit einer Beharrlichkeit
breit getreten, die den Lefer nichts weniger als lebensfreudig
' ftimmt, fondern im Gegentheil in ihm fehr bald
das Gefühl des Ueberdruffes erregt. Das I. Cap., welches
uberfchrieben ift .Bekannte Bahnen und neue Anfchauungen
' (S. 1—80 , (teilt zunächft das Programm auf und
befpricht dann noch die äufseren Lebensverhältnifse Jefu

und die Auffaffung des Chriftusbildes in der bildenden
Kunft und in älteren und neueren Gefchichtsdarftellungen.
Die Lebensweife Jefu war .nicht ohne allen Comfort'
(S. 39% In Beziehung auf Wohnung und Behaufung
liebte er fogar ,eine erquickliche Bequemlichkeit' (S. 43).
Das II Cap. zeigt uns Jefu Lebensfreude in feiner Lehr-
fchäu' (S. 80—212). Was der Ausdruck .Lehrfchau' bedeutet
, ift dem Ref. dunkel geblieben; doch dürfen folche
Wortbildungen bei einem Schriftfteller nicht befremden,
dem das für den Stil jedenfalls verhängnifsvolle Gefchick
widerfahren ift, fich neben Keim auch den Philofophen
Kraufe zum Führer gewählt zu haben (dafs letzterer für
W. der eigentliche Normalphilofoph ift. erhellt aus S. V,
196, 322, 394, 401, 406, 407, 409, 416, 418). Sachlich
ift mit der .Lehrfchau' nichts anderes gemeint, als die
Lehre felbft nach ihrem Inhalt. Das III. Cap. befchreibt
Jefu Lebensfreude im Zufammenleben mit feinen Schülern
' (S. 213 — 258); das IV. Jefu Lebensfreude in feinen
Erfolgen' (S. 258—277); das V. Jefu Lebensfreude in
feinen Kämpfen' (S. 278—350); endlich das VI. Jefu
Lebensfreude in feinem Leidens- und Todeskampfe'
(S. 350—387). Ueberall wird der , lebensheitere, frohe,
freudige und frifche Odem' (S. 146) aufgezeigt, der die
Lehre und das Leben des .munteren und lebensfreudigen
Rabbi' (S. 261) durchwehte. Auch im Leidens- und
Todeskampf ift dies der herrfchende Grundton trotz des
momentanen Schwankens in Gethfemane (S. 365 ff.).

Dafs den Ausführungen des Verf. ein Wahrheitsmoment
zu Grunde liegt, mufs gewifs anerkannt werden.
Denn trotz aller tiefen Empfindung für das Wehe der
Menfchheit geht doch durch Jefu Leben und Wirken
auch ein 'I on froher Siegesgewifsheit. Aber was an dem
Gedanken des Verf. richtig ift, ift längft von Anderen
gefagt worden, u. A. von Keim, auf welchen W. fich
ausdrücklich beruft. Wozu alfo noch ein Buch von 400
Seiten? Wozu die endlofe Breite? Und wozu die ge-
fchmacklofe Uebertreibung? Dafs damit fachlich irgend
etwas gefördert worden fei, wird fich fchwerlich behaupten
laffen.

Der Verf. ift in der rabbinifchen Literatur gründlich
bewandert. Es wäre zu wünfehen, dafs er feine Kennt-
nifse auf eine fruchtbringendere Art verwenden würde.
Zwar find auch in dem gegenwärtigen Buche für manche
Punkte intereffante Materialien aus der rabbinifchen
Literatur gefammelt. Wir verweifen namentlich auf die
Ausführung über die Werthfehätzung des Handwerks
(S. 30 ff), auf die Parallelen zur Bergpredigt (S. 389 ff.),
zum Vater Unfer (S. 398 ff.), auf die Erörterung über
Befchränkung des SabbathgeSotes (S. 423 f.), über den
Ritus des Paffamahles (S. 436 f.), über das Gerichtsverfahren
in Criminalfachen (S. 439 ff). Aber dies Alles ift
doch im Vergleich zum Umfang des Buches ziemlich
wenig. Wir können daher nur den dringenden Wunfeh
ausfprechen, dafs es dem Verf. in Zukunft gefallen
möchte, uns mit Unterdrückung feiner eigenen Gedanken
lieber nur Materialienfammlungen in der Weife eines
Lightfoot und Schöttgen zu geben. Er würde dann des
wärmften und aufrichtigften Dankes aller derer, die mit
diefen Dingen zu thun haben, verlichert fein können.

Trotz feiner Vertrautheit mit der rabbinifchen Literatur
ift dem Verf. übrigens doch (S. 15) das Verfehen
paffirt, die von Buber herausgegebene Pefikta mit der
Pcfikta rabbathi zu verwechfeln (f. dagegen Zunz, Die
gottesdienftl. Vorträge S. 185 ff, 239 ff). Auf feine
Genauigkeit in geographifchen Dingen wirft es ein bedenkliches
Licht, dafs er Jericho an die galiläifche Grenze
verlegt (S. 271).

Leipzig. E. Schürer.