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Ausgabe:

1877

Spalte:

117-120

Autor/Hrsg.:

Oosterzee, J. J. van

Titel/Untertitel:

Zum Kampf und Frieden. Sieben Vorträge. Ein Beitrag zur Charakteristik der gegenwärtigen Bewegungen auf theologischem und kirchlichem Gebiete 1877

Rezensent:

Meyer, Ernst Julius

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ihm und feinen Jüngern behauptete abfolute Irrthums-
lofigkeit feiner Lehre. So bahrt die Infpiration derfelbcn
d. i. ihre Entftchung aus dem ihm in der Taufe mitge-
theilten Gcift, ihre untrügliche Wahrheit und ihr befeli-
gender Eindruck — dies dumpfe Gefühl foll das L und
II. Moment beweifen — lediglich auf feiner geiftcrfüllten
Perfönlichkeit. Chrifti Infpiration ift Mafsftab und Quell
aller weiteren. Die Evangelien find infpirirt in dem
Mafse, als fie hiftorifche Treue bewahren und immer
tiefer in das Verftändnifs der Chrifti Lehre zu Grunde
liegenden Ideen eindringen, was im vollften Mafse von
Johannes gilt. Das II. Moment ift mafsgebend für die
Infpiration der Apoftel. Paulus hat feine Lehre von
Rechtfertigung, Perfon Chrifti, Prädeftination in engem
Anfchlufs fogar des Sprachgebrauchs an die Logia entwickelt
. Von Johannes, Petrus, Paulus läfst fich a posteriori
die adäquate Uebereinftimmung ihrer Lehren mit
dem Geilte Chrifti erweifen, was bei den deuterokanoni-
fehen Schriften nicht der Eall ift. In abgeftufter Weife
giebt es auch weiterhin in der Kirche in Predigt und
Theologie folche durch Vertiefung in Chrifti Lehre hervorgebrachte
Infpiration, die Detailcxegefe kann ihrer
entbehren, nicht fo die höhere Kritik. — Die Anfchau-
ung Chrifti zum Mafsftab für die theologifche Benutzung
der apoftolifchen Schriften zu machen, das ift ja ein
fruchtbarer Gedanke, den freilich Rcfch weder entdeckt
hat noch wirklich benutzt. Aber von Anderem abgefehen
leidet die ganze Auscinanderfetzung an dem Grundgebrechen
, dafs die Lehre Chrifti, ohne alles Eingehen auf
den religiöfen Inhalt, nur in Betracht gezogen wird, um
ein formal beglaubigtes unfehlbares Lehrgefetz zu gewinnen
. Jefu iittliche Perfon, die offenbar nur nach dem
allgemeinen Sittengcfetz beurtheilt wird, nicht nach ihrem
individuellen Beruf, ift nur Mittel, um jene Unfehlbarkeit
zu ermöglichen und zu garantiren. Und doch kann fie
beides nur, wenn Jefu Lehre in enge Beziehung gefetzt
wird zu feinem oberften Lebenszweck oder Beruf, zu
feiner Abficht, das fittlichc Gottesreich zu gründen, eine
Gemeinde zu ftiften, in der es Sündenvergebung giebt,
in der ein neues und vollendetes religiöfcs Vcrhältnifs
erlebt wird. — Steht das nicht im Vordergrunde, was
foll dann der Flittertand fpeculativer Erkenntnifse, den
man feinen Worten entprefst? Und erft aus folcher Beziehung
wird eine Irrthumslofigkeit feiner Lehre ver-
ftändlich, wird einer mifsbräuchlichen rabbinifchen Ausbeutung
derfelben zu nicht religiöfen Zwecken vorgebeugt,
wird ein Kanon zur richtigen Beurtheilung und Ver-
werthung der apoftolifchen Gedanken gewonnen, wird
die Selbftändigkeit der paulinifchen Lehre unbefchadet
ihres hervorragend normativen Werthes erklärlich; denn
der Einfall von Refch, Paulus von den Logia abhängig
zu machen, wird gerade durch feinen Verfuch, ihn zu beweifen
, erft recht unqualificirbar.

Torgau. J. Gottfchick.

Oosterzee, Prof. Dr. J. J. van, Zum Kampf und Frieden .

Sieben Vorträge. Ein Beitrag zur Charaktcriftik der
gegenwärtigen Bewegungen auf theologifch em und
kirchlichem Gebiete. Ueberfetzt und herausgegeben
von F. Meyeringh. 2. Sammlung. Gotha 1875;
F. A. Perthes. (X, 283 S. gr. 8.) M. 3. 60.

Die vorliegenden Vorträge des hervorragenden hol-
ländifchen Theologen, der von je einen fruchtbaren und
lebendigen Austaufch mit der deutfehen Theologie und
Kirche gepflogen, die Fortfetzung einer früher erfchic-
nenen Sammlung, find in ihrer Mehrzahl zur Eröffnung
eines neuen Univerfitätsjahrcs vor Studirendcn der
Theologie gehalten; nur die erfte und letzte Rede find
bei andern Gelegenheiten gehalten, jene bei Ueber-
nahme des Rectorats der Utrechter Univerfität, diefe bei
der Verfammlung der evangel. Alliance in New-York

j im Oktober 1873. Die Vorträge find durchweg apo-
! logetifch- polemifchen Inhalts und fchon in der Wahl
der Themata fpiegelt fich die eigenthümliche Situation
des Bodens ab, auf dem fie entftanden find, eines
durch feine ehrwürdige kirchengcfchichtlichc Tradition
bedeutfamen Bodens, auf dem der grofse allgemeine
kirchliche und theologifche Principienkampf der
Gegenwart feit längerer Zeit unter fchwercr Bedrohung
der evangelifchen Glaubensgüter mit befonderer Heftigkeit
und mit energifcher Aufbietung vieler edlen Kräfte
gekämpft wird. Die Bedeutung der Reden liegt bei dem
unmittelbar praktifchen Zweck, dem fie dienen, nicht
fowohl in dem wiffenfehaftlichen Gehalt derfelben, fo
' lebendig auch der Verf. in fich die Verbindung zwifchen
i Gnofis und Piftis darftellt, zu der er feine Zuhörer bilden
und erziehen will, nicht fowohl in neuen theologifchen
Funden und Erkcnntnifsen, als vielmehr in der Gabe
des Vcrf.'s, die Refultate pofitiver theologifcher For-
fchung, die er in freier und lebendiger Weife fafst, für
das allgemeine Bewufstfein flüffig zu machen und die
kirchliche Anfchauung mit der herrfchenden Intelligenz
auscinanderzufetzen, insbefondere die theologifche Jugend
mit fchwungvoliem, beredtem Wort in intereffanter, geift-
reicher Ausführung unfehwer verftändlicherGefichtspunkte
anzuregen, und für eine hohe, edle Anfchauung ihres Studiums
zu erwärmen, das in feinen weiten Perfpectivcn dem
jugendlichen Gcmüth eröffnet wird. Mit befonderem
Gefchick verficht der Verf. , durch kirchenhifiorifche
Illuftrationcn, in theilweife überrafchenden gcfchichtlich.cn
Blicken, und durch reiche Benutzung feiner grofsen Be-
lefenheit in der allgemeinen Literatur feinen Reden ein
lebendiges Colorit zu geben. Charakteriftifch ift für
die gemüthvolle, lebendige Auffaffung des Verf.'s die
fleifsige Erinnerung an Herder, der in theologifchen
Kreifen nur zu fehr vergeffen ift, und der doch gerade
in feiner fchönen, ingeniöfen Verbindung der Religion
und Poefie und insbefondere in feiner hohen, weihevollen
Anfchauung vom geiftlichen Beruf unferer theologifchen
Jugend recht fympathifch vorzuführen ift.

Einen Grundgedanken Hcrder's, von ihm mehr in
dunkler Ahnung, als in klarer Anfchauung, in unbeftimm-
ter Abgrenzung des Pofitiv-Chriftlichen und des Allge-
mein-Menfchlichen gefafst, die lebendige Einheit von
Humanität und chriftlicher Religion vertritt in reicher,
gefchichtlicher Ausführung und gefchickter Abwehr entgegengefetzter
Anflehten die erfte urfprünglich lateinifch
gehaltene Rede mit dem Thema: ,Die chriftliche
Religion die belle Lehrmeifterin der wahren
Humanität'. Die zweite und dritte Rede (,die
chriftliche Theologie die Wiffenfchaft des Glaubens
' und ,die Königin der Wiffenfehaften') fuchen
gegenüber einer falfchen Scheidung von Glauben u. Wiffen,
die keine Gegenfätze ausdrücken, fondern nur verfchie-
dene Arten der Gewifsheit und ihre höhere Einheit in
der Wahrheit haben, der Theologie den Charakter der
Wiffenfchaft zu wahren, in gleichem Widerfpruch gegen
,Unglauben' und ,Unwiffenfchaft', und nicht blofs als
einer wiffenfehaftlichen Disciplin neben anderen, fondern
als dem höheren Geift, dem befeelenden Hauch und der
Weihe aller Wiffenfchaft, was der Verfaffer unter dem
mifsverftändlichen Ausdruck: ,Königin der Wiffen-
fchaften' verfteht, was nicht heifsen foll: wiperatrix,
fondern regi?ia der Wiffcnfchaftcn. So fchön der Frei-
muth ift, mit welchem der Verf. für das wiffenfchaft -
liehe Recht der Theologie und für die allerdings nur im
angedeuteten Sinne zu behauptende centrale Stellung
derfelben eintritt, fo gefchickt er auch feine, befonders in
der Heimath des Verf.'s lebhaft angefochtene Pofition ver-
theidigt, fo ift doch gerade in diefen beiden Reden die
begriffliche Schärfe der Grundgedanken einigermafsen
zu vermiffen. Namentlich ift der Begriff der Glaubens-
wiffenfehaft nicht klar, da man nicht erkennen kann, warum
der Verf. denfelben nur fubjectiv, als die Wiffenfchaft