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Ausgabe:

1877

Spalte:

109-111

Autor/Hrsg.:

Schwalb, Mor.

Titel/Untertitel:

Der Apostel Paulus. Sechs Vorträge 1877

Rezensent:

Weiß, Bernhard

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 5.

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Bahnen eingebogen find. Es fcheint, als dürfe die Kritik
nicht müde werden, noch länger und viel deutlicher zu
erweifen, was unfercs Erachtens längft nicht mehr als
fraglich gelten follte. Für vorliegende Arbeit aber ift's
charakteriftifch, dafs fclbft der Apollo-Hypothefe mit
keinem Wort Erwähnung gefchieht. Der exegetifche
Apparat ift überhaupt auf das geringftc Mafs befchränkt
und dcmgemäfs auch die Gefchichte der Auslegung
weniger berückfichtigt, als es der unmittelbare Zweck
der Vorlefungen vielleicht gefordert hätte. Noch am
meiften wird der Commentare von Lünemann und De-
litzfch gedacht; doch fehlt fogar zu 6, 4 ff. ein Wort,
welches über die abweichenden Erklärungen Anderer
orientirt. — Mit augenfchcinlichcr Vorliebe geht der Verf.
den Gedankenbewegungen des ,Apoftcls' nach. Was er
nach diefer Seite hin geleiftet, verdient ohne Zweifel
ungleich mehr Anerkennung als die kritifchen Bemerkungen
, die er eingcflochten oder angefchloffen hat.
Wohl leidet feine Darftcllung an einer gewiffen Schwerfälligkeit
, und das Vorwort wird nicht mit Unrecht
fagen: ,wer Unterhaltung im Colleg fuchte, fand dasfclbe
ungeniefsbar'; doch ift die Beweisführung des biblifchen
Autor's meift gut herausgcftellt und manche verborgene
Seite feines Wortes in helles Licht gefetzt. Dafs der
Zufammenhang nicht überall richtig erkannt wird, be-
weift die Excgcfe an mehr als einer Stelle: wie I, 5, wo
OqptQOV yeyivvtjxti as (S. 25) von der Zeugung des Men-
fehen Jefus aus dem heiligen Geifte, der Menschwerdung
des Sohnes gedeutet wird, während es dem Contexte
gemäfs (vgl. v. 2) nur auf die Ewigkeit bezogen werden
kann; oder 3, 3 ff., wo das ,&e6g' in den Worten ö di
navTu ytacaay.aiäoag Vtög v. 4 nach Art der Aelteren
als Prädicat (,der aber Alles bereitet hat, der ift Gott'),
nicht als Subject genommen wird. Je nüchterner im
Ganzen W.'s Auslegung ift, defto mehr mufs es auffallen
, wenn er (zu 1, 1 S. 16) die den ncuteftamcntlichcn
Schriftftellern gemeinfame Uebcrzeugung. dafs das Weltende
bevorftehe, auf der chriftlichen Grundanfchauung
beruhen läfst, dafs mit der Vollendung der göttlichen
Offenbarung in Chriftus die Macht gegeben fei, welche
die Weltvollendung herbeiführt; ,theilen wir die letztere,
fo muffen wir folgerichtig auch die erftere theilen, wie
weit immer das eingetretene letzte Thcil der Zeiten fich
erftrecken mag'. Damit ift nur fcheinbar eine Löfung
des angedeuteten Problem's gegeben; denn es bleibt
noch immer unerklärt, warum die Apoftel den letzten
Abfchnitt diefes Aeon felbft mit zu erleben meinten
(vgl. 1 Cor. 15, 51 fg., 1 Theff. 4, 15 ff- u, a.). — Der
Druck könnte fauberer corrigirt fein. Es finden fich
falfchc Acccnte und Spiritus in grofser Anzahl. Auch
lefen wir S. 39 ,Pf. 110, 7' ftatt Pf. 110, 1 und S. 55
.Blank' ftatt Bleek.

Leipzig. Wold. Schmidt.

Schwalb, Pred. Dr. Mor., Der Apostel Paulus. Sechs Vorträge
. Zürich 1876, Schmidt. (IV, 128S.gr. 8.) M. 3.—

Der bekannte Name des Bremenfer ,Liberalen' und
der Zweck folcher Vorträge fagen uns, dafs wir es hier
nicht mit einer wiffenfchaftlichen Arbeit zu thun haben.
Der Verfaffer will auch gar nicht zur , Theologenzunft'
gehören, auf die er fehr vornehm hcrabblickt, und feiert
feinen Lehrer Baur, dem er feine Grundanfchauungen
verdankt und in welchem Paulus dem XIX. Jahrhundert
auferftanden fein foll, wie in Auguftin und Luther dem
V. und XVI., weil er, obwohl äufserlich zu ihr gehörend,
ihr doch in mancher Beziehung fehr fremd war. Diefer
,furchtlofefte, befcheidenfte, mächtigfte Gefchichtsforfcher'
würde denn aber doch, zu feiner Ehre fei es gefagt,
manchmal den Kopf fchüttcln, wenn er noch die Vorträge
feines Schülers lefen könnte, der fich ,nicht nach
officiellcr Sitte als Prediger, fondern als Gefchichtsforfcher
und Menfch' ,vor diefem tarfifchen Juden in aufrichtiger

Verehrung' beugt. In der That, ein feltfamer Gegen-
ftand der Verehrung! Nachdem diefer Paulus eigenhändig
alle Fundamente der Moral zerftört, weift er feine
Schüler an, das Zuträgliche, das Frommende zu thun,
leugnet und behauptet die Willensfreiheit in einem Athem,
und fieht nicht, dafs feine ,für uns etwas anftöfsige geift-
liche Lohnfucht' mit feiner Gnadenlehre gründlich unvereinbar
ift. Der Obrigkeit lehrt er gehorchen nicht blofs
aus Furcht, fondern auch um des Gewiffens willen, wobei
er aber den Hintergedanken hat: nicht blofs des

I Gewiffens, fondern auch der Strafe wegen. Dafs er bei
feiner ,antiken Geringfehätzung des Weibes' vor Gemeinden
, in denen auch Frauen fafsen, unbefprechbare Dinge
in einer nach unferm Gefühl unerträglichen und zu feiner

| Zeit felbft nicht unanftöLigen Weife befprach, will der
Verf. ihm nicht fo übel nehmen. Kein Wunder, da er
felbft in feinen doch auch für feine Verehrerinnen gedruckten
Vorlefungen auf S. 47 eine Anm. giebt, die
alles Schamgefühl empört und eine Phantafie, die folches
zur Erklärung des ,Pfahl im Fleifch' erdichtet, in nicht
beneidenswerther Weife charakterifirt. Die Liebe befingt
diefer Paulus, aber leider hat er fie nicht immer geübt,
die alten Apoftel hat er mit farkaftifchem Hohn' über-
goffen und verflucht. Mit leidenfehaftlicher Liebe zur
Wahrheit verbindet er eine gewiffe Unlauterkeit und Un-
wahrhaftigkeit; obgleich er den Petrus und Barnabas als
Komödianten brandmarkt, wie wir wenigftens dreimal zu
hören bekommen, erlaubt er fich fclbft eine ziemlich
grofse Anbequemung und manche Unwahrheit. Sein
Bericht über die Erfcheinungcn des Auferftandenen ift
mit mehr Klugheit als Genauigkeit componirt. Seine
ganze theologifche Methode kennzeichnet Mangel an
ftrenger Wahrheitsliebe und Wahrhcitsfinn. Er täufchte
fich über den Urfprung feiner Lehre, indem er nicht
mehr wufste oder wiffen wollte, wie er dazu gekommen.
Seine vifionären, ekftatifchcn Zuftändc verderben feinen
Wahrhcitsfinn, wie feine Demuth, und zerrütten feine leib-

I liehe Gefundhcit. Seine Exegefe beweift die Verfchro-

I benheit und Unlauterkeit des Apoflels , womit er fich
felbft betrog und feine Freunde täufchte. Seine manchmal
als Fanatismus fich äufsernde Glaubensftärke verband
fich mit tiefgehendem Skepticismus. Seine Sprache
war nur ausnahmsweifc pfäffifch, er erlaubte fich gute
und fchlechte Witze, oft ift fein Stil langweilig, oft wird
er fclbft nicht genau gewufst haben, was er meinte. Sein
Aeufseres erfchien auf den erften Anblick eher lächerlich
als fchön. Natürlich hat er neben alledem auch
grofse Vorzüge, er ift eben ein Mann der Widerfprüche,
einer der menfehlichften Menfchen, ein unbegreifliches
Ungeheuer, wie Pascal fagt.

Ich habe mich bemüht, dies Bild möglichft mit den
eigenen Worten des Verfaffers aus dem 3. Vortrage zu
zeichnen. Der Verf. liebt eine gewiffe Derbheit und
Rückfichtslofigkeit des Ausdrucks, er gefällt fich darin,
Alles was er von dem Leben feines Helden und der
erften Chriften erzählt, recht profan, recht erbärmlich,
recht bornirt darzuftellen. Wir kennen diefe Manier.
Den Höhepunkt erreicht diefclbe in feiner Charakteriftik
der von ihm für unecht gehaltenen Briefe, die ihm den
Eindruck grofser religiöfer Kälte, ja manchmal widerlicher
Lauheit machen. Ephefer-, Coloffer- und Hebräerbrief
zeichnen fich durch die Manierirtheit und Unnatür-
lichkeit ihres Stils aus. Wahrfchcinlich hat noch Niemand,
dem das Herz am rechten Flecke fafs, feine Mitchriften
vor der Gefahr der ewigen Vcrdammnifs in fo fchönen,
mit fo grofser ftiliftifcher Kunft und Sorgfalt geglätteten
Perioden gewarnt, und wenn der Verf. wirklich die Furcht
und Liebe empfunden hätte, die er überall zur Schau ftellcn
möchte, hätte er nicht ein folches Gewebe von fpitzfindig
gefuchten, mikroskopifch ausgearbeiteten Citaten den
Lefcrn unterbreitet. Im Philipperbrief klingt noch ein
letztes kaltblütig nachgeahmtes Poltern gegen die juda-
iftifchen Irrlehrer nach, der Verf. mufs fich mehrmals