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Ausgabe:

1877

Spalte:

91-93

Autor/Hrsg.:

Lewes, George Henry

Titel/Untertitel:

Geschichte der neueren Philosophie. Deutsch nach der 4. Ausg. von 1871 1877

Rezensent:

Heinze, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 4.

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der ,Perfönlichkeit', der das Wefen diefes Begriffs nicht
in ftarrer Selbftbehauptung fondern in der Hingabe des
• egoiftifchen Subjects an die Gemeinfchaft findet, zum
opferfreudigen Eingehen in den Kampf wider die
der deutfchen evangelifchen Volksgemeinfchaft fchäd-
lichen Mächte.

So wenig wir in diefen patriotifchen Gedanken den
vielbefprochnen rein efoterifchen Grundzug der Herrn-
huter rinden können, fo wenig erinnern uns auch die
beiden mehr wiffenfchaftlichen und theologifchcn Vorträge
der Sammlung an den kleinen Kreis, für den der
Verfaffer fie zunächft beftimmt hat. Ihr Gefichtskreis
ift ein fo weiter, wie er es bei einem evangelifchen Theologen
nur fein kann. — Plitt prüft den Werth der claffi- 1
fchen Bildung für den Theologen. Der gewöhnlich hervorgehobene
blofs ,formale' Ertrag derfelben will ihm
mit Recht nicht genügen. Er will die Alten als Vorbilder
nicht für die Grundlegung aber für die Art und
Weife des Aufbaus des Lebens hingeftellt wiffen und
betont dabei als die beiden Hauptvorzüge des antiken
Wefens das ftete Suchen nach Wahrheit und die freiwillige
Unterordnung des Subjects unter das Gemein-
wefen, — zwei Tugenden, die nach des Verf. Ueber-
zeugung ohne Zweifel auch den evangelifchen Theologen,
die ebenfo vor gedankenlofer Aeufserlichkeit wie vor j
fchrankenlofem Subjectivismus zu warnen find, anerzogen
werden müffen.

Der letzte Vortrag erweckt durch fein Thema ,über
die Bedeutung der Trinitätslehre für die Gegenwart'
eine etwas mifstrauifche Stimmung. Doch ift fein Re-
fultat ein dem in diefem Thema ausgefprochenen Gedanken
ziemlich genau entgegengefetztes, dies nämlich,
dafs die moderne conftruetive Trinitätslehre nicht geeignet
ift, als Grundlage und Stützpunkt für die theologifche
Arbeit der Gegenwart zu dienen, dafs man
dazu vielmehr tiefer zurückgreifen müffe in das Herz
des Glaubens. Der vom Verf. in den Mittelpunkt ge-
rückte ,Chriftus der Schrift' freilich dürfte ein zu unbe- j
ftimmtes und zugleich zu rein objectives Fundament für
diefen Endzweck fein, — der Stützpunkt des Glaubens
liegt ebenfowenig in der Chriftologic als in der Trinitätslehre
, er kann für einen evangelifchen Chriften nirgends
anders liegen als in dem Materialprincip der Reformation
; es kommt nur darauf an, dies Glaubenscentrum
dem modernen Judaismus und Hellenismus gegenüber i
in's rechte Licht zu Hellen.

Saufedlitz b. Bitterfeld. Th. Weber.

Lewes, George Henry, Geschichte der neueren Philosophie.

[Gefchichte der Philofophie von Thaies bis Comte
II. Bd.] Deutfch nach der 4. Ausg. von 1871. Berlin
1876, Oppenheim. (VIII, 811 S. gr. 8.) M. 13. —

Von dem erften Bande des vorliegenden Werkes ift
die deutfehe Ueberfetzung fchon vor einigen Jahren in
2. Auflage erfchienen, ein Zeichen, dafs auch unfere
Landsleute Gefchmack an dem in England fehr verbreiteten
Werke gefunden haben, wobei ins Gewicht fällt,
dafs Lewes nicht für Fachmänner und angehende Philo-
fophen fchreibt, fondern fich auch mit diefer Gefchichte
der Philofophie an ein gröfseres Publicum wendet. Es
ift dies einer der Hauptvorzüge diefes Werkes vor manchem
feines Gleichen in Deutfchland, dafs es fich fern
hält von der eigentlich philofophifchen Terminologie und
in allgemein fafslicher Form gefchrieben ift. Zugleich
ift es infofern anregend, als es den Lefer in die philo-
fophifchen Unterfuchungen unmittelbar einführt, die
Prägen felbft an ihn nahe heran bringt und ihn fo zum
Selbftarbeiten anregt. Denn es giebt nicht etwa nur eine
Darfteilung der verfchiedenen Lehren und eine Kritik
derfelben, fondern es läfst fich dabei öfter in eine lebhafte
und intereffante Discuffion der gerade behandelten

Probleme ein. Freilich mufs dabei fogleich bemerkt
werden, dafs es häufig nicht in die Tiefe geht, und dafs
die Darftellung nicht annähernd zu einer genaueren Orientierung
ausreicht. Bei einzelnen Philofophen find fehr
erhebliche Lücken zu bemerken; ich will nur erwähnen,
dafs die ganze Kritik der praktifchen Vernunft und die
Kritik der Urtheilskraft bei Kant nicht ausführlicher zur
Sprache kommt. Es ift demnach das Buch zu einem
eigentlichen Studium der Philofophie in ihrer gefchicht-
lichen Entwickelung nicht geeignet, da der Lefende ein
unvollkommenes bisweilen auch ein getrübtes Bild von
den einzelnen Gröfsen in der Philofophie erhalten wird.
Dagegen ift es denen als Leetüre anzurathen, die in
leichter Weife eine ungefähre Einficht in die verfchie-
denften Philofophieen fich verfchaffen und fich zugleich
anregen laffen wollen zu eigenem Denken. Ich zweifle
nicht, dafs auch diefer zweite Band fich einen anfehn-
lichen Leferkreis erwerben wird, und ich würde ihn im
Ganzen noch mehr empfehlen als den erften, da für die
neue Zeit der Standpunkt des Verfaffers, der fich überall
geltend macht, nicht fo häufig zu ungerechter, weil un-
hiftorifcher, Beurtheilung Veranlaffung giebt, als dies bei
den Alten der Fall fein mufste.

Der Verf. ift bekanntlich entfehiedener Anhänger des
Pofitivismus, und die erfte englifche Ausgabe unferes
Werkes in den Jahren 1845—46 war in der ausgefprochenen
Abficht gefchrieben, von der Metaphyfik zur pofitiven
Philofophie hinzuleiten. Die Gefchichte follte benutzt
werden als ein Mittel der Kritik ,um zu zeigen, wie mit
einer Schule auf die andere ein Mifslingen auf das andere
folgt'. Allerwärts fieht Lewes jetzt die Zeichen, dafs
Alles auf die pofitive Philofophie losarbeitet, und er erblickt
auch in Deutfchland in der Theilnahme, die der
Materialismus trotz feiner Befchränktheit fich erworben
hat, in dem Verfall aller metaphyfifchen Syfteme und in
der augenfeheinlichen Ausdehnung aller pofitiven Wiffen-
fchaften fichere Symptome dafür, dafs auch in unferem
Vatcrlande die pofitive Philofophie binnen Kurzem vor-
herrfchen werde, ,da fie ja doch das einzige Syftem fei,
welches alle Richtungen einfchliefsc und eine homogene
Lehre von der Welt, von der Gefellfchaft und dem
Menfchen darbieten' könne. Ich zweifle nun zwar nicht,
dafs der Pofitivismus fich in Deutfchland einiges Terrain
erobern wird, nachdem er befonders in England fo weite
Ausbreitung gefunden hat, ob wir uns aber bei ihm beruhigen
werden, ift eine Frage, die wenigftens nicht leicht
bejaht werden kann.

Der vorliegende zweite Band behandelt nun die
Philofophie von den Anfängen der Scholaftik bis zu
Comte und fchliefslich wird auch noch der gegenwärtige
Zuftand der Philofophie in Frankreich, Deutfchland, England
einer flüchtigen Beleuchtung unterworfen. Die Zeit
von Erigena bis zu Giordano Bruno nennt der Verf. die
Periode des Uebergangs und behandelt da in drei Ca-
piteln kurz die Scholaftik, die arabifchc Philofophie und
das Aufkommen der pofitiven Wiffenfchaften. Unter der
letzten Rubrik führt er befonders Albert den Grofsen,
Roger Baco, Giordano Bruno vor, und die ganze folgende
Zeit theilt er in eilf Epochen, denen er in Ueberfchriften
ihre befondere Signatur giebt. So heifst es von der erften
Epoche, in welcher Francis Bacon und Dcscartes abgehandelt
werden: ,die Philofophie trennt fich noch einmal
von der Theologie und fucht ihren Bciftand in der
pofitiven Wiffenfchaft', von der dritten, in welcher I [obbes,
Locke und Leibniz vorkommen: ,die Philofophie hält
inne, um die Tragweite und die Grenzen des menfeh-
lichen Geiftes kennen zu lernen'. Es ift freilich Leibniz
hier nur in gewaltfamer Weife mit untergebracht. Staunend
fleht man, dafs Gall eine eigene, die achte, Epoche ausfüllt
mit der Charakteriftik: ,die Pfychologie wird fchliefslich
als ein Zweig der Biologie anerkannt'. Es wird
hiermit diefen mifsglückten phrenologifchen Verfuchen
eine Bedeutung beigelegt, die ihnen nimmermehr in der