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Ausgabe:

1877 Nr. 3

Spalte:

67-69

Autor/Hrsg.:

Ritschl, Albrecht

Titel/Untertitel:

Unterricht in der christlichen Religion 1877

Rezensent:

Besser, M.

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 3.

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Ritschi. Confift.-R. Prof. Dr. Albr., Unterricht in der
christlichen Religion. Bonn 1875, A. Marcus. (VIII,
84 S. gr. 8.; M. 1. 20.

So häufig die Klagen über den Religionsunterricht
in den oberen Claffen der Gymnafien find, fo mannig- j
faltig find die Tonarten, in denen cliefelben geführt werden
. Da heifst es, die Glaubens- und Sittenlehre könne
den Schülern auch der oberften Claffe nicht zugänglich
gemacht werden, denn wenn man die Kirchenlehre unverletzt
laffen wolle, fo komme es höchftens auf eine ge-
dächtnifsmäfsige Einübung der Auguftana hinaus; fobald
die eigene Ueberzeugung des Unterrichtenden mitfpreche,
fei eine Verletzung der Kirchenlehre fall unvermeidlich, j
fuche man aber eine lebendige Vermittelung zwifchen
der Kirchenlehre und dem modernen Denken, fo über-
fchreite man den Standpunkt der Schüler, ungerechnet
die Gefahren, welche dann die willkürliche Geftaltung
der chriftlichen Lehre mit fich bringt. Solche Klagen
machen es begreiflich, dafs auf der einen Seite Stimmen
laut werden, welche die Abfchaffung des Religions-Unterrichts
in den oberen Claffen der Gymnafien oder
mindeftens des Unterrichtes in der Glaubenslehre befürworten
, und dafs auf der anderen Seite gefordert wird,
auch der Unterricht in der Glaubenslehre, wie der ge- :
fammte Religionsunterricht fei rein gefchichtlich zu betreiben
. Ich will hier ohne nähere Begründung nur der
Ueberzeugung Ausdruck verleihen, dafs die Befeitigung
des Unterrichtes in den Elementen der Glaubenslehre
dem gefammten Religionsunterricht die Spitze abbrechen
und fomit das Ziel der Gymnaflalbildung wefentlich
fchädigen würde, während der zweite Standpunkt: Glau-
benslehre rein gefchichtlich zu betreiben, in fleh wider-
flnnig ift. Jene Klagen zeigen aber deutlich an, dafs die
gebräuchliche Methode jenes Unterrichts mangelhaft ift.
Sehen wir uns die Handbücher und Leitfäden für den-
felben an, fo fallen zwei rehler vor allem ins Auge:
erftens wird der Ausgangspunkt aufserhalb der chriftlichen
Gemeinde genommen, indem nach Art der be- f
rüchtigten Prolegomena zur Dogmatik allgemeine Belehrungen
über den Begriff der Religion, der Offenbarung
u. f. w. dem eigentlich chriftlichen Lehrftoff vorausge-
fchickt werden; und zweitens, wenn man endlich von
den allgemeinen Erörterungen zur chriftlichen Religion 1
gelangt ift, fo wird die Darfteilung in einen dogmatifchen !
Schematismus gezwängt, der den Einblick in den inneren
Zufammenhang der chriftlichen Lehre erfchwert und die !
vollftändige Anfchauung des Chriftenthums verkümmert.
Der erfte Fehler ift eine auch von der wiffenfehaftlichen !
Glaubenslehre noch lange nicht überwundene Tradition
aus der Zeit des Rationalismus, wo der gefunde Men-
fchenverftand den Anfpruch erhob, die Berechtigung des
Chriftenthums aus Ideen herzuleiten, die der menfeh-
liehet] Vernunft angeboren feien und als allgemeine
d. i. im Befltz aller Menfchcn befindliche Wahrheiten j
nur herausgelöft werden müfsten aus den Schlingge-
wächfen der localen und temporalen, nationalen und
individuellen Zufälligkeiten. Der zweite Fehler ift ein
Erbtheil der orthodoxen Periode des 17. Jahrhunderts,
welche die fcholaftifchen Begriffsformen, in denen fie
die religiöfe Errungenfchaft der Reformationszeit zu
einem grofsen Syftem aufbaute, gelegentlich verwechfelte :
mit der religiöfen Wahrheit felbft.

Beide Fehler hat der vorliegende Unterricht in der
chriftlichen Religion , welcher zum Gebrauch in der
oberften Claffe des Gymnafiums beftimmt ift, vermieden.
Er fchöpft die religiöfe Wahrheit aus dem Glaubens-
befltz der chriftlichen Gemeinde, ohne beim gefunden
Menfchenverftand zu Lehen zu gehen, und fetzt an
Stelle des theologifchen Schematismus diejenige Entfaltung
chriftlicher Wahrheit, welche in der Taufformel
angedeutet ift, alfo den Beftand der chriftlichen Religion j
innerhalb der Gemeinde bedingt. Mit dem Grundfatz, !

das Verftändnifs des Chriftenthums vom Standpunkt der
chriftlichen Gemeinde aus zu gewinnen, ift dem Verf.
zugleich die heilige Schrift als alleinige Quelle der chrift
liehen Wahrheit gegeben, indem diefe in den Evangelien
die nächfte Urfache und Beftimmung der chriftlichen
Religion, in den Briefen aber den urfprünglichen Stand
des gemeinfehaftlichen Glaubens in der Gemeinde erkennen
läfst, während diefe Geftalt des Gemcindeglaubens
im Lauf der Gefchichte mannigfach verfchoben und
durch fremde Einflüffe getrübt worden ift. Der erfte
Paragraph der Einleitung giebt die Grundzüge des Lehrplans
folgendermafsen an: ,Da die chriftliche Religion
aus befonderer Offenbarung entfpringt und in einer be-
fonderen Gemeinde von Gläubigen und Gottesverehrern
da ift, fo mufs der ihr eigenthümlichc Gedanke Gottes
ftets in Verbindung mit der Anerkennung des Trägers
dieler Offenbarung und mit der Werthfehätzung der
chriftlichen Gemeinde aufgefafst werden, damit der ganze
Inhalt des Chriftenthums richtig verltandch werde'. Hie-
nach zerfällt der Unterricht in die Lehren: 1) von dem
Reiche Gottes; 2) von der Verformung durch Chriftus;
3) von dem chriftlichen Leben; 4) von der gemeinfehaftlichen
Gottesverehrung. — Es leuchtet ein, dafs die
trinitarifche Taufformel der Grundrifs ift, auf dem fleh
hier die chriftliche Lehre aufbaut, denn der erfte Theil
von dem Reich Gottes ift ja nur die Entfaltung der Idee,
welche nach der Offenbarung durch Chriftum Gottes
Wefen conftituirt, während der dritte und vierte Theil
von der Idee des heiligen Geiftes als der in der Gemeinde
wirkfamen Gotteskraft beherrfcht wird. Wie durch diefen
Ausgangspunkt von der Taufformel eine directe Anknüpfung
an das im Schüler fchon vorhandene Material
chriftlicher Erkenntnifs ermöglicht wird, fo gewährt auch
die Ausführung des Planes durch die ftete Orientirung
am Glaubensleben der Gemeinde und die Abzielung auf
das religiös-flttliche Leben im Gottesreich die Concen-
tration auf folche Fragen, die dem religiöfen und fltt-
lichen Leben des Schülers bereits irgendwie nahe getreten
find, während alle theologifchen Cabinetsfragen,
fowie die Arabesken der Beweife vom Dafein Gottes
u. f. w. abgefchnitten find. Endlich ift der fchwierige
und langwierige Umweg durch die theologifchen Termini
der alten Dogmatik vermieden. In den bisher befpro-
chencnRückfichten wird der vorliegende Leitfaden hoffentlich
ein typifches Vorbild für den Unterricht in der
chriftlichen Religion auf der oberften Stufe der Gymnafien
werden. — Nicht fo unbedingt ift mein Wunfeh,
dafs diefer Leitfaden den Schülern und Lehrern direct
zum praktifchen Gebrauch diene. Dem ftellcn fleh man
cherlci Schwierigkeiten und Hindcrnifse in den Weg.
Während es von grofsem Wcrthe ift, dafs das Buch für
die Anwendung und Vertiefung der vom Schüler in
früheren Claffen erworbenen Kenntnifse aus dem A. T.
und N. T., fowie aus der Kirchengefchichtc Raum läfst,
fo wird doch eben in diefer Beziehung fich leicht eine
Disharmonie herausftcllen zwifchen den exegetifchen resp.
biblifch-theologifchen und kirchengefchichtlichen Auf-
faffungen der wichtigeren Punkte, wie fie der Schüler
aus den früheren Claffen mitbringt und zwifchen den Ge-
fichtspunkten diefes Leitfadens. Diefe Schwierigkeit findet
freilich gar nicht Statt, wo dem normalen Zuftand
gcmäfs der Religionsunterricht der oberen Claffen in
einer Hand liegt, und im entgegengefetzten ungünftigen
P'all wird man annehmen dürfen, dafs fich die Anfchau-
ungen des Verf.'s, foweit fie fich von den herkömmlichen
unterfcheiden, allmählich einbürgern werden. Viel
hinderlicher ift für den praktifchen Gebrauch die
Thatfache, dafs Gedankenzufammenhänge in das Buch
verwoben find, die — wenigftens nach meiner Erfahrung
— den Gefichtskreis des Schülers überfchreiten, fo z. B.
in $ 10, insbefondere Anm. c, ferner in § 12, befonders
Anm. a, in $ 18, in g 57, $ 63. Ferner, wenn fchon
rühmend hervorgehoben ift, dafs die Vermeidung des