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Ausgabe:

1877 Nr. 3

Spalte:

65-66

Autor/Hrsg.:

Schultz, Herm.

Titel/Untertitel:

Die Stellung des christlichen Glaubens zur heiligen Schrift. Zwei apologetische Vorträge 1877

Rezensent:

Kaftan, Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 3.

66

theologifchen Methode nicht am Platze ift. Ferner wäre
bei einer umfaffenderen Behandlung die Hauptfrage be-
ftimmter hervorgetreten, ob nämlich die Mittel des theo-
retifchen Denkens zu einem Entwurf der Weltanfchauung
genügen, oder ob dabei Motive des praktifchen Geiftcs-
lebens müffen zu Grunde gelegt werden. Vielleicht wäre
dann auch aufgeftofsen, dafs religiös gleichgültige
Daten des theoretifchen Denkens vom theologifchen
Syftem nicht überfehen werden dürfen, wenn der reli-
giöfen Weltanfchauung diejenige Bedeutung wiffenfehaft-
lich gefichert werden foll, die fie in unterem praktifchen
Leben ohne Weiteres hat. Und fo wäre richtiger erkannt,
was die Quelle der fo geläufigen Verquickung von ,Meta-
phyfik' und Theologie ift. Die Kritik diefer Verquickung
hätte trotzdem fcharf genug ausfallen können; denn es
thut der Kritik keinen Abbruch, wenn ein Irrthum aus
einem berechtigten Intereffc abgeleitet wird. So wie es
lautet wird das kritifchc Urtheil als zu hart und als ungenügend
motivirt empfunden.

Aber dies find alles Einwürfe (ich habe nur die
Grundfrage und auch hier nur einige Hauptpunkte in
Betracht gezogen , denen fich mit der Antwort begegnen
läfst, dafs eine folche Vollftändigkeit der Verhandlung
gar nicht beabfichtigt fei. Es bleibt jedoch der Ein-
wurf, dafs eine derartige Ifolirung nicht möglich ift, und
dafs namentlich die Kritik zu einfeitig und keck ausgefallen
, weil der Mafsftab derfelben durch jene Ifolirung
bedingt ift. Damit foll das anfangs erwähnte Vcrdienft
der Schrift durchaus nicht gefchmälert werden. Die
Leetüre derfelben ift jedem anzurathen, der für die verhandelte
Frage Intereffe hat. Dem Verfaffer ift aber
dringend eine gröfsere Sorgfalt in Sprache und Styl zu
empfehlen. Sonft wird er weniger Lefer finden, als die
Sache verdient. Er ift geradezu in Gefahr, mit den Ge-
fetzen der deutfehen Sprache in Conflict zu gerathen,
um vom äfthetifchen Intereffe ganz zu fchweigen.

Bafel. J. Kaftan.

Schultz, Prof. Dr. Herrn., Die Stellung des christlichen
Glaubens zur heiligen Schrift. Zwei apologetifche Vorträge
. Braunsberg 1876, Peter. (47 S. gr. 8.) M. — 75.

Diefe Vorträge find als apologetifche angekündigt.
Sie find jedoch allem Anfcheine nach weniger dazu benimmt
, den chriltlichen Glauben an die Schrift zu ver-
theidigen als vielmehr die frommen Vorfiellungen von
der Schrift zu berichtigen. Eins ift auch fo wichtig faft
wie das andere. Gerade an diefem Punkt fitzt die theologifche
Tradition in Gefialt eines religiöfen Vorurthcils
fefter als an irgend einem andern. Und das kann in
mehr als einer Beziehung nachtheilig wirken, thut es oft.

Der erfte Vortrag geht aus von der Incongruenz
zwifchen der gewöhnlichen frommen Anficht von der
Schrift und deren gcfchichtlichem Thatbeftand. Er
fchildcrt dann, was die biblifchen Bücher von fich fclbft
fagen, und wie die gewöhnliche Anficht über fie fich
gebildet hat. Namentlich wird die Zufammengehörigkeit
der Annahme einer buchstäblichen Infpiration und der
allegorifchen Auslegung hervorgehoben. Wie fie ge-
fchichtlich mit einander entfianden find, fo bedingt die
eine die andere. Das evangelifche Schriftdogma barg
vor allem deshalb von vornherein die gröfsten Schwierigkeiten
, weil es zu einer Steigerung des Infpirationsdog-
mas anleitete und doch die allegorifche Schriftauslegung
ausfchlofs.

Der zweite Vortrag bringt zur Verneinung des erften
die pofitive Ergänzung. Nämlich wenn auch die hergebrachte
Meinung von der Schrift nicht Stich hält, fo ift
doch der chriftliche Glaube von der heiligen Schrift
nicht im Unrecht, fondern derfelbe läfst fich ebenfowohl
mit Hülfe der hiftorifch richtigen Anfchauung von der
Schrift und ihrer Imtftehung begründen. Das durch die

altteftamcntliche Religion vorbereitete Chrifienthum ift
die höchfte Offenbarung Gottes in der Welt. Die biblifchen
Bücher find die Urkunden diefer Offenbarung,
wenn auch von verfchiedenem Werth. Und es ift der
Eine Gottcsgeift, der fich aus der ganzen heiligen Schrift
' heraus am empfänglichen Gemüth bezeugt. Die evan-
j gelifche Kirche hat daher Recht, die heilige Schrift als
! die entfeheidende Inftanz in Sachen des chriftlichen
Glaubens und der chriftlichen Sitte zu betrachten, da
das Chrifienthum eine gefchichtliche Gröfsc ift, die man
nach den Urkunden zu beftimmen hat. Und das religiöfe
Gefühl des Chriften fchöpft mit Recht feine kräftigften
Anregungen gerade aus diefen Büchern.

Ein wefentliches Moment in der Stellung des chriftlichen
Glaubens zur heil. Schrift fcheint mir in diefen
Auseinanderfetzungen nicht genügend berückfichtigt zu
fein. Uniäugbar befriedigt der evangelifche Chrift fein
religiöfes Autoritätsbcdürfnifs durch das Anfchn, welches
er in feinem Glauben der heiligen Schrift beilegt. Es
handelt fich ihm da innerlich um noch etwas anderes
als um die oberfte Autorität der Schrift für Lehre und
Leben der chriftlichen Gemeinde. Indem er die hei-
j lige Schrift Gottes Wort nennt, fichert er fich die Unverbrüchlichkeit
der evangelifchen Heilsbotfchaft für die
I Stunden auch der eignen inneren Anfechtung. Daran
| wird auch nichts geändert durch die an und für fich
richtige Reflexion, dafs nicht unfer Glaube an die Schrift
I fondern der Glaube an Chriftum das erfte und begründende
ift. Jenes Bedürfnifs ift nun einmal da. Und die
Gemüther halten mit folchcr Zähigkeit an der alten In-
fpirationslehrc feft, weil fie ihnen dasfelbe befriedigt.
Man wird daher die fromme Vorftellung von der Schrift
j nicht berichtigen können, wenn nicht in dem dafür gebotenen
Erfatz jenem berechtigten Intereffe Rechnung
! getragen wird. Das gefchieht jedoch in diefen Vorträ-
: gen nicht. Nun ift nach Auffaffung des Ref. die hier
vorgetragene Anfchauung von dem Verhältnifse zwifchen
Offenbarung und heiliger Schrift die einzig richtige und
j mögliche. Daran kann alfo auch in dem bezeichneten
Intereffe um der Wahrheit willen nichts geändert werden.
; Dagegen vermag Ref. dem hier zu Grunde gelegten
Begriff von der göttlichen Offenbarung nicht zuzuftimmen.
Ift diefe felbft in Chrifto nichts als eine wenn auch
J höchfte Steigerung der religiöfen Genialität, fo kann fie
I den Sünder über feine Verformung mit Gott nicht beruhigen
. Wir überwinden die natürliche Gefetzesreligion
des ,vernünftigen' Menfchen nur, indem wir uns einer
| nicht blofs dem Grad, fondern ihrer ganzen Art nach
einzigartigen Offenbarung Gottes in Chrifto getröften.
Nur fo befeftigt fich die religiöfe Grundwahrheit des
Chriftenthums, dafs Gott die Liebe ift, gegen den Wider-
fpruch der praktifchen Vernunft. Ein Supranaturalismus
diefer Art ift dem Chrifienthum wefentlich und wird fich
| auf die Dauer nicht davon trennen laffen. Er bietet
vielleicht auch die Möglichkeit, in der Lehre von der
heil. Schrift das oben erwähnte religiöfe Intereffe zu
j befriedigen und andererfeits doch in der fo unbefangenen
I wie befonnenen Weife diefer Vorträge dem gefchichtli-
chen Thatbeftand gerecht zu werden.

Noch möchte ich fragen, ob es nicht richtiger ift,
in Vorträgen folcher Art die religiöfe Pofition voranzu-
ftellen. Sie bietet dann für die Kritik der überlieferten
theologifchen Vorftellungen ein Mafs, deffen Anwendung
ihr auch für das religiöfe Gemüth Ueberzcugungskraft
giebt.

Aber freilich wird es niemals gelingen, theologifche
Vorurtheile in der Gemeinde ganz auszurotten. Das ift
ein Uebelftand, den keine Wiffenfchaft befeitigen, fondern
nur Weisheit unfehädlich machen kann.

Bafel. J. Kaftan.