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Ausgabe:

1877 Nr. 3

Spalte:

63-65

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Metaphysik in der Theologie 1877

Rezensent:

Kaftan, Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 3.

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in der Sache beherzigenswertheften gehört, was von die-
fer Seite geltend gemacht worden ift. Die Charakteri-
ftiken von Vilmar und Stahl, welche den Mittelpunkt
der dem ,Ultralutherthum' gewidmeten Betrachtungen
bilden, haben nicht blofs zeitgefchichtlichen Werth, fondern
beanfpruchen auch in den der hiftorifchen Würdigung
Zwingli's gewidmeten Partien (S. 240 fg.) Beachtung
von Seiten der Fachgelehrten. Daneben verfchmäht
es der Verf. aber auch nicht, an Kundgebungen, die, von
gröber agitirenden Kreifen ausgegangen, an das katho-
lifche Volk von Uri oder an das proteftantifche Volk im
deutfchen Norden fich wenden, die Ziele und Richtungen
zu veranfchaulichen, welche die Zeit, die er durchlebt
, charakterifiren.

Frifcher im Gedächtnifs ift uns Heutigen die nach
Links gewandte Abwehr, welche der fchlagfertigfte un-
ferer Veteranen zuerft gegen den ,alten und neuen Glauben
', dann gegen die ,Philofophie des Unbewufsten', endlich
gegen eine, beiden Standpunkten gemeinfame,
abfchätzige Beurtheilung der chriftlichen Moral gerichtet
hat. Im Ganzen erfährt der atheiftifche Optimismus von
Straufs eine herbere Kritik als der pantheiftifche Peffi-
mismus von Hartmann, wiewohl unumwunden anerkannt
wird, dafs man auch von dem Erfteren immer
lernen kann; ,nur vor feinem antireligiöfen Dämon mufs
man fich in Acht nehmen'. Die Beurtheilung feines Wirkens
läuft auf den Satz hinaus, dafs Straufs ftets das
Gegentheil von dem erreicht habe, was er erzweckte,
dafs er zu Grunde richte, was er halten möchte, z. ß.
die monarchische Ordnung, und ftärke, was er am liebften
vernichtet fähe, d. h. nicht blofs die Reftauration in Kirche
und Theologie, fondern auch den Socialismus. In der
Kritik Hartmann's wird befonders die feinfinnig durchgeführte
Vergleichung mit dem Schematismus der gno-
ftifchen Speculation überrafchen. Praktische Werthung
betreffend fei nur auf die treffend formulirte Beforgnifs
verwiefen: ,wenn das Chriftenthum die Flingabe an ein
gottvolles Allgemeine fo Vielen nicht abgewinnt, werde
aus der Hingabe an ein gottlofes Allgemeine noch viel
weniger werden' (S. 363). Im Anfchluffe hieran zeigt der
Schlufsabfchnitt, wie die optimiftifche und die peffimi-
ftifche Weltweisheit auch darin miteinander im Wider-
Spruche ftehen, dafs jene im Chriftenthum nur Weltflucht
finden will, während diefe es der Verirrung in Weltpflege
befchuldigt, beiderfeits alfo je ein Moment in der chriftlichen
Moral vercinfeitigt und zur Carricatur verzerrt
wird (S. 401. 419 fg.).

Strafsburg. H. Holtzmann.

Herrmann, Privatdoc. Lic. W., Die Metaphysik in der

Theologie. Halle 1876, Lippert'fche Buchh. (82 S.
- gr. 8 ) M. 1. 60.

Diefe kleine Schrift ift offenbar eine Frucht der Anregung
, welche die Theologie dem Werke Ritfchl's über
die Rechtfertigung und Verhöhnung zu verdanken hat.
Dem Inhalt nach ift fie eine einfeitige Ausführung der
Andeutungen, welche Ritfehl über das besprochene Thema
giebt. Und die Eigentümlichkeit der Ausdrucksweife
Ritfchl's ift hier zur Manier geworden.

Die wiffenfehaftliche Welterklärung und die religiöfe
Weltanfchauung haben nichts mit einander zu fchaffen
und follen daher nicht, wie fo vielfach gefchieht, mit
einander vermengt werden. Die Welt, ob wiffenfehaft-
lich erklärt oder nicht, ift für den Chriften immer nur
diejenige, welche Chriftus für ihn überwunden hat. Was
die religiöfen Erfcheinungen für die wiffenfehaftliche
Welterklärung find, wird dagegen nicht gefagt. Ebenfo
werden einfeitig die Forderungen formulirt, welche die
Theologie an die Metaphyfik zu Hellen hat. Wenn nämlich
die letztere erftens ,die Modifikation unfercr Begriffe
in dem Wechfel der Beziehung auf Dinge und Geifter

erkennen' läfst und zweitens ,die Grenze refpectirt, welche
das Arbeitsfeld des unabhängigen Erkennens von dem
Herrschaftsgebiete des concreten Sittlichen Ideals trennt' —
dann find die Forderungen der Theologie erfüllt. Im
übrigen gehen beide am beften je ihren eignen Weg
Der verderbliche Einflufs, den das Gegentheil, die Nichtbeachtung
des Unterfchiedes der Methode in Metaphyfik
und Theologie, auf die letztere ausgeübt hat, wird dann
in zwei Hauptlehren der chriftlichen Theologie aufge-
wiefen, in der Lehre von der Sittlichen Freiheit und der
Chriftologie. Dies in oberflächlichster Skizze der Inhalt
der Schrift. Es fcheint mir unzweifelhaft, was auch hier
dargethan wird, dafs die traditionelle Theologie vielfach
eine falfche Verquickung von Metaphyfik und Theologie
enthält. Es darf daher als ein Verdienft bezeichnet werden
, wenn derVerfaffer diefen hochwichtigen Punkt zum
Gegenstand feiner fcharffinnigen Unterfuchung gemacht
hat, Denn ob man nun im Schlufsurtheil mit ihm übereinstimmt
oder nicht, fo bleibt es für jeden wichtig, fich
des Unterfchiedes zwifchen beiden klar bewufst zu fein
und nur auf Grund eines folchen klaren Bewufstfeins
die Vereinigungspunkte zu Richen. Dafs Sie zur Weckung
diefes Bewufstfeins in einer im grofsen und ganzen richtigen
Weife beiträgt, wird daher unter allen Umftänden
ein Verdienft diefer Schrift bleiben. Ob es freilich mit
einer folchen einfachen radicalen Trennung zwifchen
beiderlei Aufgaben gefchehen fei, das ift eine andere
Frage, die kaum von vielen im Sinne des Verf. bejaht
werden wird.

Im einzelnen bieten die Ausführungen auch gerade
über die Hauptfrage zu mancherlei Einwänden Anlafs.
Zunächft ift die hier der Metaphyfik angewiefene Stellung
zum mindeften fonderbar. Einerfeits erfcheint es
wiederholt als die Aufgabe derfelben, Begriffe zu finden,
welche der Freiheit und der Naturwelt gleichmäfsig
übergeordnet find. Andererfeits fordert die Theologie
von ihr, dafs fie die durch diefen Untcrfchied gebotene
Modifikation unferer Begriffe beliehen laffe. Ebenfo
wird eine Metaphyfik als möglich angenommen, die in
der Weife eines deiftifchen, pantheiftifchen oder theifti-
fchen Syftems die wiffenfehaftliche Welterklärung zu
Ende führt, und doch wird fie als Surrogat der Religion
entlarvt, fobald fie dabei ethifche Begriffe verwendet.
In folchem Widerspruch, was die Aufgabe der Metaphyfik
betrifft, kann nun das Denken des Verf. nicht
begriffen fein. Er deutet auch an, dafs es vielleicht in
der Sache begründet fei, wenn bis dahin Theologie und
Metaphyfik fich gegenfeitig ftets als Concurrenzunter-
nehmen betrachtet haben (p. 2). Ebenfo heifst es gelegentlich
, die Metaphyfik fei, fofern fie überhaupt zur
wiffenfehaftlichen Welterklärung gehöre, die letzte feinfte
Function der mechanifchen Weltbehcrrfchung (p. 16). Der
Verf. fcheint daher nur deshalb, weil er eine begrenzte
Vorunterfuchung (p. 2) führen will, das letzte Urtheil
über die Metaphyfik zurückzuhalten. Und. dies letzte
Urtheil würde nach den Prämiffen wie im Hinblick auf
die Gedanken Ritfchl's dahin zu ergänzen fein, dafs die
Metaphyfik, fofern fie rein mit den Mitteln des theoreti-
fchen Denkens das Welträthfel zu löfen unternimmt, ein
Wahngebilde ift, fofern fie aber praktifche Motive damit
vermifcht, angewiefen werden mufs, fich vor allem über
den Unterfchied theoretifcher und praktifch motivirtcr
Welterklärung klar zu werden. Oder mit anderen Worten
: das letzte Urtheil Herrmann's über die Metaphyfik
fcheint dahin zu gehen, dafs fie abgefehen von der Kritik
der Begriffe keine wiffenfehaftliche Aufgabe weiter
zu löfen hat.

Aber auch abgefehen von einer mir hier noth-
wendig erfcheinenden Ergänzung bleibt mancherlei einzuwenden
. Vor allem fehlt jeder Beweis für die Behauptungen
des Verf. Gefetzt auch, fie feien alle richtig, fo
ift doch zu bedenken, dafs die Selbftgewifsheit des religiöfen
Urtheils in einer Befprechung der fachgemäfsen