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Ausgabe:

1877 Nr. 24

Spalte:

636-640

Autor/Hrsg.:

Lutheri, Mart.

Titel/Untertitel:

Scholae ineditae de Psalmis habitae annis 1513 - 1516. E codice ms. bibliothecae regiae Dresdensis primum edidit Joa. Carol. Seidemann. 2 voll 1877

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 24.

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lieh des zweiten Punktes hat er auch infofern Recht,
als die Errichtung des Sanf- Uffizio in Rom, von dem er
augenfeheinlich reden will, allerdings die Infcenefetzung
der Gegenreformation bezeichnet. Was nun zunächst
die Reformation angeht, fo bemüht fich der Verf., fie
unparteiifch aufzufaffen und darzuftellen. Nicht allein
erkennt er fie offen als hiftorifche Nothwendigkeit, hervorgerufen
durch die Gebrechen des beftehenden Kir-
chenwefens, an, fondern er läfst auch ihren Trägern per •
fönlich in vollem Mafse Gerechtigkeit widerfahren. Aber
dem Princip der Bewegung wird er damit doch nicht
gerecht. Ihm erfcheint der Proteftantismus nur als das
Product eines intellectuellen Proceffes: entPcanden dadurch
, dafs man die bisher nur auf die Klaffiker des
Alterthums angewandten Grundfätze wiffenfehaftlicher,
hiftorifch-kritifcher Forfchung nun auch den Urkunden
des Chriften- und Kirchenthums gegenüber geltend gemacht
habe. Es ift bei diefer Anficht um fo mehr anzuerkennen
, dafs der Verf. fich doch dagegen verwahrt
(S. 145), dafs man dem Proteftantismus die , fpäteren
wahnfinnigen Ausfchreitungen des Skepticismus und des
Materialismus' zur Laft lege. Aber die innerfte Wurzel
der Reformation, wie fie in einem Luther verkörpert dasteht
, die Noth des Gewiffens, welche keine Scheidewand
zwifchen der Seele und ihrem Gott dulden kann und
will, wird nur andeutungsweife geftreift (S. 193) und nicht
als treibende Kraft gewürdigt, weil dem Verf. das rechte
Verftändnifs für den fpeeififeh religiöfen Charakter der
Bewegung abgeht. Die Anficht Anelli's ift für conftru-
irende Gefchichtsdarftcllung zwar verlockend, infofern
man fo eine Bewegung erhält, die fich leicht und mit
faft mathematifcher Genauigkeit vorher berechnen läfst,
aber eine Bewegung, bei der deshalb auch ausgefchloffen
ift, dafs grofse individuelle Factoren mit unberechenbaren
Kräften an dem Gewebe der Gefchichte mitwirken.

,Die zweite Stelle in der Gefchichte des Jahrhunderts
', heifst es S. 177, .nimmt das Sanf Uffizio ein,
jenes fchrecklichc Tribunal, welches Paul III. eingerichtet
und der Kaifer 'f Impcrö) gefordert hatte, um die neuen
Ideen zu unterdrücken'. Es ift doch gewagt, die Errichtung
des Sanf Uffizio in Rom fo dem Kaifer mit aufzubürden
; denn deffen feit zwanzig Jahren ftets wiederholte
Forderung ging nicht auf gewaltfame Reaction,
fondern auf ein Concil hin, und die Errichtung jenes Tribunales
ift gerade das Werk der antikaiferlichen Partei mit
Caraffa an der Spitze gewefen. Was aber die Beurtheilung
des Inititutes und der Idee, die in ihm verkörpert ift,
vom religiöfen und moralifchen Gefichtspunkte aus angeht
, fo wird man dem Verf. nur beiftimmen können,
der S. 181 fagt, dafs ihm ,die Worte und die Einbildungskraft
fehlen, um die Barbarei der Inquifitoren lebendig
genug darzuftellen'. Er verfehlt auch nicht, darauf
hinzuweifen, dafs man, indem man die Perfonen mordet,
doch die von ihnen vertretenen Gedanken nicht tödten
kann. Aber welcher Widerfpruch zeigt fich dann wieder
in der Ausführung! Der Verf. mag noch fo liberal fchei-
nen wollen — er fleht, da wo er die reformatorifche Bewegung
in Italien und die Veranlaffung zur Gründung
des Sanf Uffkio behandelt (S. 185 ff), doch genau auf
dem Standpunkte eines Antonio Caracciolo, aus dem er
wohl auch, wenn nicht direct, fo doch durch Vermittlung
von Cantü und ähnlichen Schriftftellern, gefchöpft hat.
Folge davon ift, dafs fich fein eigenes Urtheil vollständig
verwirrt, fo dafs der Lefer, wenn es fich nicht um eine
fo ernfte Sache handelte, fich nicht enthalten könnte, zu
lächeln, wenn er nach alledem auf S. 189 lieft: ,Zur Ehre
Italiens fei es gefagt — unfere Bevölkerung gerieth in
Erregung und brach in heftigen Tadel, in Verwünfchun-
gen und Flüche aus'!

Zum Schlufs möchten wir nur noch das bemerken,
dafs der Eindruck des ganzen Werkes den augenfehein- 1
lieh abfichtlichen Vermerk: da un Veccliio Cattolico fta-
liano — nicht rechtfertigt. Oder befteht etwa der Alt- |

katholicismus nur darin, dafs man gewiffe offenkundige
Mifsbräuche in der kirchlichen Disciplin und Lehre, bezüglich
der letztern befonders die päpftliche Infallibilität,
verwirft und mit ftarken Ausdrücken des Abfcheus belegt
? Eine principielle Auseinanderfetzung mit dem hier-
archifchen Gedanken im Kirchenthum fehlt durchaus,
und über diefen Punkt müfstc doch die Leetüre des
Werkes zu allernächft orientiren. Uebcrhaupt leidet
dasfelbe an Ungleichmäfsigkeit und Unbeftimmtheit, und
diefer Umftand möchte es bewirken, dafs dasfelbe trotz
vielfacher Anläufe zu unbefangener Darstellung und trotz
des Vorzuges formeller, nur oft etwas phrafenhafter,
Glätte einen dauernden Eindruck kaum machen dürfte.
Es ift dies um fo mehr zu bedauern, da die italienifche
Literatur eine auch nur befcheidene Anfprüche befriedigende
compendiöfe Darftellung der Kirchengefchichte
nicht befitzt, und da bei der Abneigung, welche die bef-
feren Kräfte dort in der letzten Zeit gegenüber allen
religiöfen oder kirchlichen Stoffen an den Tag gelegt
haben, eine tüchtige und befonnene Bearbeitung diefcs
Gebietes kaum fo bald zu erwarten fteht.

Bonn. Benrath.

Lutheri, Dr. Mart, Scholae ineditae de Psalmis habitae
annis 1513—1516. E codice ms. bibliothecae regiae
Dresdensis primum edidit Joa. Carol. Seidemann.
2 voll. Dresdae 1876, Zahn. (XXI, 470 u. 407 S. m.
1 photolith. Fcsm. gr. 8.) M. 36. —

Im Jahre 1875 (Studd. u. Kritt, 4. Heft) gab Seidemann
die erfte Nachricht von dem Funde eines Luther-
manuferiptes auf der Königl. Bibliothek in Dresden.
Dasfelbe war nichts geringeres als das Heft der erften
Pfalmcnvorlefungen, welche Luther bald nach feiner
Promotion zum Doctor in Wittenberg begann und Ende
1516 beendete. Niemand hatte eine Ahnung, dafs eine
folche Bereicherung unferer Kenntnifs von jenen Vor-
lefungen überhaupt möglich fein werde. Das Höchftc,
was man hatte hoffen dürfen, war, dafs einmal eine cor-
recte Ausgabe der Gloffcn veranftaltet werde, welche
Luther in einem Pfalter, welcher gegenwärtig in Wolfenbüttel
aufbewahrt wird, zwifchen den Zeilen eingetragen
hat und die das Dictat für jene Vorlefungen gewefen
zu fein Rheinen. Diefe Gloffen find ja bereits einmal
edirt, bei Walch, Bd. IX, 1467—3545, aber in der Uebcr-
fetzung und aufserdem, wie durch Riehm's Mittheilung
der Bufspfalmen gemäfs dem lateinifchen Original (Ofter-
programm der Univerfität Halle 1874) bekannt wurde,
zum Theil mit erheblichen Mifsverfländnifscn. Durch
Seidemann's glücklichen Fund find nun unfere Quellen
über Luther's Anfänge ganz aufserordentlich bereichert
worden. Sie find jetzt geradezu reich zu nennen. Wie
viel Mühe die Entzifferung des Manufcriptcs, welches in
2 ftattlichen Bänden vor uns liegt, gekoftet hat, zeigt
ein Blick auf das Facfimile, welches Seidemann beigegeben
hat. Die Eiuleitungsfragen erörtert die Vorrede
mit Gelehrfamkcit. Zu wünfehen wäre nur ein genaueres
Regifter über die wichtigeren Daten und Begriffe. Ein
folches fehlt nicht gänzlich, aber es ift nur fehr unvoll-
ftändig, berückfichtigt merkwürdigerweife faft nur den
erften Band und auch diefen nur mit ziemlich planlofer
Auswahl. Die Edition felbft ift mufterhaft forgfältig.
In Hinficht ihrer Methode ift jedoch zu bedauern, dafs
Seidemann in übertriebener Gcwiffenhaftigkeit das Ma-
nufeript felbft in der durchaus willkürlichen Interpunction
und in dem principlofen VVechfel zwifchen grofsen und
kleinen Anfangsbuchstaben ganz fo abgedruckt hat, wie
er es vorgefunden. Soviel ich weifs, gilt es nicht für
nothwendig, ja für verfehlt, bei der Ausgabe von Urkunden
mit diefer Acngftlichkeit zu verfahren. Die Leetüre
des Werkes ift dadurch ganz unnöthig erfchwert.
Die wenigen Male, wo es für den Sinn wefentlich ift,