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Ausgabe:

1877 Nr. 23

Spalte:

618-620

Autor/Hrsg.:

Renan, Ernest

Titel/Untertitel:

Dialogues et Fragments philosophiques 1877

Rezensent:

Pünjer, Bernhard

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öi7

Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 23.

618

lifchcr Paftor. Er führt in Hohenfriedeberg, wohin in-
zwifchenauch feine Eltern gezogen find, graue Schweflern
in die Gemeinde ein, läfst durch einen Jefuiten Und durch
einen Franziskaner eine Miffion halten und pflanzt zur
Erinnerung daran ein von ihm felbft renovirtes und gemaltes
Miffionskreuz an der äufseren Kirchenmauer ein,
während die ganze Gemeinde betend auf den Knieen
liegt (S. 192). Allein fchon im Sommer desfelben Jahres
erzeugt die Einberufung des Concils die erften Bedenken
in feiner Seele. Im nächften Frühjahr hat er fchon einen
bedeutenden Schritt weiter auf dem Wege zur Wahrheit [
gethan, denn während der Vater fleh bei den Jefuiten
in Schweidnitz Rath holt, conferirt der Sohn mit Rein-
kens, Baltzer und anderen Männern, die ihr Ge-
wiffen nicht an Rom verkaufen wollten. Trotz diefer
feiner inneren Stellung würde v. R., der eine durchaus
irenifchc Natur und keineswegs zum Vorkämpfer geeig- !
net war, keinen Conflict mit der von ihm aufrichtig ge- j
liebten katholifchen Kirche provocirt haben, wenn er
nicht ohne irgend welches Zuthun von feiner Seite in
denfelben hinein gedrängt worden wäre. Die Veranlaffung
ifl bekannt. Sie lag in feiner durch die Regierung er- |
folgten Ernennung zum Canonicus, da eine vom Staate
zu befetzende Domherrnftelle erledigt war. Der Fürft-
bifchof hatte ihn als persona grata angenommen; nachher
aber, als v. R., der grofse Bedenken hatte, auf den ihm
gemachten Antrag einzugehen, wirklich Domherr ge- j
worden war, gab Dr. Förfter dem Drucke des Dom- |
capitels nach und verlangte, entgegen vorher gethanen
mundlichen und fchriftlichen Aeufserungen (S. 223. 225),
dafs v. R. feine Unterwerfung unter das Vaticanum erklären
follte! Wir müffen leider des Raumes wegen auf
eine ausführliche Darfteilung diefer von Beffer's Hand
meifterhaft gezeichneten Vorgänge verzichten und uns
damit begnügen, auf den betreffenden, ,Conflictszeit' über-
fchriebenen Abfchnitt zu verweifen (S. 235—318). v. R.
wurde in die ,Gemüthspreffe' genommen und gab am
16.. März 1873 die gewünfehte Declaration ab (S. 280). ,
Der Jubel im clerikalen Lager war grofs, erfchallte aber,
wie gewöhnlich, zu früh. Ein fo wahrhafter, lauterer
und edler Charakter konnte fleh bei einem ihm abge- :
zwungenen Widerrufe nicht beruhigen. Nach acht fchwe- |
ren Wochen nahm v. R. ihn am 14. Mai an dem
erften Jahrestage von Bismarck's kraftvoller Erklärung:
,Nach Canoffa gehen wir nicht!' — für immer |
zurück. Der Bruch mit Rom war gefchehen und zwar
um des Gewiffens willen; als eine .Gewiffenspflicht' fah. !
der Brcslauer Domherr es an, feine ,im Drange der Ver-
hältnifse ausgefprochene Unterwerfung unter die vatica- j
nifchen Dccretc zurückzuziehen' (S. 299).

Was diefem Bruche mit Rom folgte, fei nur noch
kurz berührt. Zunächft war es eine .altkatholifche Epi-
fode' (1873—1875). v. R. fühlte fleh durch den Alt-
katholicismus nicht befriedigt, er hatte von Jugend auf
zu viel evangelifche Luft eingeathmet. Eine Äeufserung,
die er felbft in diefem Sinne feinem Bruder Ferdinand
gegenüber gethan hat (S. 461), läfst dies klar erkennen. !
Den Sohn einer frommen, evangelifchen Mutter zog es 1
zu »nierer Kirche zurück, in welcher er einft als Kind '
die heil. Taufe empfangen hatte. Umfonft verfuchten da- j
her auch die katholiflrenden Irvingianer, infonderheit
Herr v. Pochhammer, ihr Netz nach ihm auszuwerfen. |
Für diefe Phantaften war v. R. ein viel zu klarer Kopf, j
Ebenfo betrachtete er die durch Pearfall Smith ver- j
urfachtc Bewegung, obwohl er an der grofsen Verfamm-
lung in Brighton theilnahm, mit nüchternem Sinne 1
(S. 514- 515)- ,

Bei der Volkszählung am 1. Dccember 1875 bekannte
er fleh ,als im Begriff lutherifch zu werden' (548). Am
dritten Adventsfonntage trat er bei Ahlfeld in Leipzig
wirklich über. Gegen die Union war er leider durch
Stahl's Buch: ,Die lutherifchc Kirche und die Union'
eingenommen (S. 546). Vielleicht wäre v. R. ihr doch

näher gekommen, wenn der Tod ihn nicht fo jählings
ereilt hätte. Im Februar 1876 machte er eine Reife nach
Berlin, wo er fleh bei feinem Bruder Ferdinand vierzehn
Tage aufhalten wollte. Hier traf ihn das Mifsgefchick,
dafs er eines Sonntagabends am Schreibtifche fitzend
einfchlief, die Petroleumlampe umftiefs und erft erwachte,
als die entfetzlichften Brandwunden ihn fchmerzten. Die
Floffnung, das theure Leben zu erhalten, war vergeblich.
Am 7. März verfchied der vortreffliche Mann fanft und
ruhig unter den Gebeten feiner Angehörigen. Seine ir-
difche Hülle wurde nach dem Hohenfriedeberger Kirchhofe
gebracht. Dr. Beffer hielt die Leichenpredigt über
2 Cor. 12, 9. Sie ift im Anhange als werthvolle, fchöne
Beigabe mitgetheilt (S. 640—656).

Möge diefe Skizze recht viele veranlaffen, das Buch
felbft, deffen Ausftattung von Seiten der Verlagshandlung
dem werthvollen Inhalte vollftändig entfpricht, zur Hand
zu nehmen! Es verdient beachtet und gelefen zu werden.

Crefeld. F. R. Fay.

Renan, Erneff, Dialogties et Fragments philosophiques.

Paris 1876, Calmann Levy. (XXI, 335 S. gr. 8.) Fr. 7.50.

Im Mai 1871, als in Paris die Greuel der Commune
herrfchten, find dem Verf. in der Stille von Verfailles,
wohin er fleh zurückgezogen hatte, die vorliegenden
Dialogncs entftanden. Wir befchränken uns darauf, die
darin niedergelegten philofophifchen Gedanken des auf
andern Gebieten hochverdienten Verf.'s dem deutfehen
Publicum mitzutheilen und verzichten von vornherein auf
jede Beurtheilung.

Im erften Dialog unterreden fleh Philalethe, Fluthy-
phron, Eudoxe, fammtlich Anhänger derjenigen Schule,
,die den Cultus des Ideals, die Leugnung des Ueber-
natürlichen, die experimentelle Untcrflichung der Wirklichkeit
' als Grundfatz hat, über das, was wir betreffs
des Univerfums fleher wiffen, daher der Titel ,Ccrtitudesl.
Zunächft lieht feft, dafs es keine Einwirkung übernatürlicher
Wefen, volonte* particuliercs, auf untere Welt giebt.
Eine folche Einwirkung nämlich müfste nothwendig
wahrgenommen werden, während thatfächlich alles in
der Welt fleh nach allgemeinen Gefetzen ereignet, von
denen eine Abweichung im Intereffe befonderer Zwecke
fleh nicht conftatiren läfst. Auch eine Wirkung des
Gebets, fofern dadurch die Dinge anders gefchehen, als
Tie fonft gefchehen wären, ift niemals nachgewiefen und
kann niemals nachgewiefen werden. Ebenfo fo fleher
aber ifl, dafs die Welt ein Ziel hat, und dies Ziel ift
das zu immer höherer Stufe (ich entwickelnde Bewufst-
fein. Das Treibende in der Entwicklung der Welt ift
der Schmerz, das unbefriedigte Sein, das Sein, das fleh
entfalten will. Ueberall bemerkt man ein allgemeines
Streben, einen Plan zu verwirklichen, eine harmonifche
Einheit hervorzubringen. Mit ficherem Inftinct geht die
Welt auf dem Wege allmählicher Entwicklung, durch
welche auch das Leben und die Mcnfchheit entftanden
ift, ihrem Ziel entgegen. Auch wir find nur das Spiel
eines höheren Egoismus, der durch uns einen Zweck verfolgt
. Diefer zeigt fleh in der Forderung des Guten,
denn in den meiden Fällen hat der Menfch ein Intereffe
daran, nicht tugendhaft zu fein; dennoch treibt die Natur
ihn dazu, durch den kategorifchen Imperativ, durch
die Ausfleht auf ein jenfeitiges Leben. Indem Gott die
Tugend will, ift dies der höhere Plan, der fleh uns auferlegt
und uns mit umfchliefst, und unfere Aufgabe ift,
kräftig mitzuarbeiten an diefem Ziel.

Im zweiten Dialog, ,Probabilites' betitelt, entwickelt
dann Theophrafte feine eigenthümlichen Anflehten. Es
giebt eine Refultante der Welt, die fleh bildet aus allmählichen
Anhäufungen. Obgleich nämlich durch die
egoiftifche Rivalität ein grofser Theil der activen Kräfte
des Univerfums verloren geht, ift immer noch ein Ueber-
fchufs. Diefer ift der Grund des Fortfehritts in der