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Ausgabe:

1877 Nr. 2

Spalte:

616-618

Titel/Untertitel:

Carl Freiherr von Richthofen, früher Domherr in Breslau. Ein Lebensbild aus den kirchlichen Kämpfen der Gegenwart. Nach handschriftlichen Nachlaß und mütterlicher Erinnerung 1877

Rezensent:

Fay, Friedrich Rudolf

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6i5

Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 23.

*

616

Kirche lebensfähig erwiefen hat, zuverläffigen und an-
fchaulichen Bericht erftattet.

Hamburg. Carl Bertheau.

Moskaus gedacht wird, wie z. B. der bekannten des
Olearius.

Den fo gewonnenen Stoff theilt der Verf. chrono-
logifch mit, gröfstentheils in den eigenen Worten der
Quellen, die nicht-deutfchen, namentlich die ruffifchen mit
beigefügter Ueberfetzung, und unter fteter Angabe diefer Carl Freiherr von Richthofen, früher Domherr in Bres-
Quellen. Die Ungleichartigkeit und dann doch auch die | . lau. Ein Lebensbild aus den kirchlichen Kämpfen der
Lückenhaftigkeit derfelbenliefs ihn diefe Methode dem Ver- Gegenwart. Nach handfchriftlichem Nachlafs und

fuche, eine zufammenhängende Gefchichte zu fchreiben,
vorziehen. In 26 Beilagen, welche die Hälfte des zweiten
Bandes füllen und theilweife von andern Verfaffern herrühren
, werden theils fpecielle Unterfuchungen über einzelne
Punkte nachgetragen, theils wird in ihnen die Gefchichte
einzelner Inftitute geliefert; fodann werden in
ihnen die Nachrichten über das Leben der Prediger an
den fämmtlichen Gemeinden zufammengeftellt und ftati-
ftifche Mittheilungen gemacht. Ausführliche Namen-
regifter erleichtern dann den Gebrauch des Werkes,
wobei nur zu bemerken ift, dafs es bequemer wäre,
wenn ftatt je eines Namenregifters über jeden Band ein
gemeinfanaes über beide vorhanden wäre, zumal fich
beide am Ende des zweiten Bandes befinden.

Es kann nicht die Aufgabe diefer Anzeige fein, eine
Ueberficht über den reichen und vielfeitigen Inhalt des
fo entftandenen Werkes zu geben. Es enthält faft zugleich
eine Gefchichte der Deutfchen in Moskau und
giebt in feinen erften Partien namentlich intereffante
Mittheilungen über die Stellung der Fremden überhaupt
im damaligen ruffifchen Reiche. Aerzte und Handwerker,
die der Grofsfürft nach Moskau zog, Gefandtfchaften,
oft aus fürftlichen Perfonen beftehend, mit ihrem zahlreichen
Gefolge und dann Kaufleute und Offiziere bildeten
die Glieder der erften deutfchen Gemeinde, und
die Unentbehrlichkeit diefer Männer liefs den Lutheranern
verhältnifsmäfsig früh, wenn auch nicht ohne mancherlei
Kämpfe darum, gewähren, was den römifch-katholifchen
Chriften, gegen welche die Häupter der ruffifchen Kirche
fich in viel bewufsterem Gegenfatz befanden, verfagt
blieb, das Recht nämlich eines eigenen kirchlichen Gemeindeverbandes
und freier Religionsübung in demfel-
ben. Es waren wohl nicht immer nur die beften Elemente
, aus welchen fich der Zuwachs diefer Gemeinden

mütterlicher Erinnerung. Leipzig 1877, J. Naumann.
(VI, 656 S. 8.) M. 7. —

Fein und taktvoll hat mütterliche Liebe das Lebensbild
' eines Sohnes gezeichnet, deffen Name ,in den
kirchlichen Kämpfen der Gegenwart' oft und mit Ehren
genannt ift. ,Eines bewährten Freundes hülfreiche Hand'
hat die Verfafferin ,beim Schreiben unterftützt' und auf
ihre Bitte hin ,die wichtigfte Periode des befchriebenen
kirchlichen Lebensganges felbftändig bearbeitet'. Der
Freund wird fpäter genannt (S. 235). Es ift der durch
feine praktifchen Bibelerklärungen wohl bekannte alt-
lutherifche Paftor Dr. Beffer in Waldenburg, der
die ihm zugewiefenen fchwierigen Abfchnitte lehrreich
und gefchickt behandelt hat. Auch fügt fich feine Dar-
ftellung, felbft hinfichtlich des Styls, fo gut in diejenige
der Freundin ein, dafs der Gefammteindruck des ganzen
Werkes nicht im geringften leidet, vielmehr als ein höchft
befriedigender, die lebendigfte Theilnahme erweckender
bezeichnet werden darf. Denn Theilnahme, warme
Theilnahme des Herzens, verdient ein Lebensgang, wie
derjenige Carl von Richthofen's gewefen ift. Man
wird kaum zu viel behaupten, wenn man fagt, dafs den
Trefflichen, in welchem fich kindliche Frömmigkeit mit
mannhaftem Wahrheitsfinne, heiterer Humor mit tiefem
Lebensernfte harmonifch vereinigte, von der Wiege bis
zum Grabe ein gewiffes tragifches Gefchick begleitet hat.
Ein Blick auf fein Leben möge diefes Urtheil beftätigcn'.

Am 31. Januar 1832 wurde C. v. Richthofen
als drittes Kind der in Roin bei Neumarkt in Schlehen
wohnenden Eltern Carl Ludwig v. R. und Ferdinande
von Kulifch geboren. Vater und Mutter waren evan-
gelifch. Im September 1838 trat der Vater ganz im
Stillen zu Dresden bei P. Mende zur katholifchen

bildete, und viele von denen, die fich dort einfanden, Kirche über. Die Mutter blieb evangelifch, auch die
gleichen Abenteurern, die manchmal dem deutfchen Na- beiden Töchter follten im proteftantifchen Glauben er-

men Schmach bereiteten; aber auch tüchtige und ehren-
werthe Männer kamen in grofser Anzahl gerufen oder freiwillig
, und der Einflufs, den he auf die Entwicklung der
ruffifchen Zuftände hatten, ift, fo unfcheinbar er auch im

zogen werden, die vier Söhne dagegen mit dem Vater
gehen, der natürlich ein eifriger Katholik wurde. Erft
zu Oftern 1852 beftand Carl, der durch wiederholte
fchwere Krankheiten auf der Schule etwas zurück ge-

einzelnen oft ift, im ganzen ein grofser und fegensreicher | blieben war, feine Abiturientenprüfung und entfchlofs

gewefen. Das innere kirchliche Leben ift natürlich be
cinflufst von der Entwicklung, die dasfelbe in Deutfch-
land nahm, und Spuren desfelben treten feltener, wie
nicht anders zu erwarten ift, in der Gefchichte hervor.
Im äufsern Leben fehlt es felbft in den kleinen Gemeinden
nicht an Streitigkeiten, die oft recht kleinlich find

fich, Förfter zu werden. Sein heiteres Gemüth, fein
offener Sinn für die Natur zogen ihn hinaus in den grünen,
frifchen Wald. Allein die Berufswahl, die er getroffen,
war doch nicht die richtige. Zwar vollendete er feinen
Curfus auf der Forftakademie zu Neuftadt-Ebers-
walde, diente auch nach feinem Abgange von dort als

Aber im ganzen haben fich die deutfchen Lutheraner in i Einjähriger beim II. Infanterieregiment in Breslau, fühlte
Moskau nicht unverdient in Anfehen und Gunft bei den j fich aber durch feinen weltlichen Stand innerlich nicht
Ruffen und ihren Fürften zu erhalten gewufst. Die j befriedigt. Nach und nach reifte in ihm der Entfchlufs,
Chronik bietet im einzelnen nach allen diefen Bezieh- [ Theologie zu ftudiren. Der jetzige altkatholifchc Bifchof
ungen eine Anzahl höchft anziehender Darftellungen von j Dr. Reinkens, damals Profeffor in Breslau ,redete'
Begebenheiten und Menfchen, die gerade, weil fie mit | ihm zuerft ,ab', billigte aber fchliefslich feinen Wunfeh.
den Worten der urfprünglichen Berichterffatter gegeben Drei Jahre (1858—1861) dauerte die Vorbereitung auf
werden, ein lebhaftes Intereffe wecken und für die jedes- der fchlefifchen Hochfchule. Es folgte das Priefterfeminar.
malige Zeitgefchichte auch rückfichtlich der Auffaffung Die Tagebuchblätter aus der Alumnatszeit (S. 591 — 623)
der Referenten lehrreich find. laffen uns wahrhaft erhebende Blicke in die Tiefe diefer

Wenn deshalb das Werk auch hauptfächlich für die von inniger Gottesliebe durchdrungenen Seele thun. Der
Mitglieder der eyangelifchen Gemeinden in Moskau ge- Schlefier C. v. R. erinnerte uns beim Durchlefen der-
fchrieben ift, fo ift nicht zu bezweifeln, dafs es in mehr- 1 felben oft an Angelu s S ilefius; während aber Scheff-
facher Hinficht auch bei uns in Deutfchland viele an- ; 1er von der evangelifchen Kirche zu der römifch-katho-
ziehen wird. Für die Lefer diefer Zeitung kommt be- j lifchen fich wendete, ging unfer Freund den umgekehrten
ionders in Betracht, dafs es über einen Zweig der lu- | und gewifs befferen Weg. In Lauban, in Breslau,
therifchen Kirche deutfeher Zunge und Abdämmung, | in Hohenfriedeberg finden wir ihn dann als Prieffcr.'
der fich fchon feit 300 Jahren inmitten der ruffifchen I Noch im Frühling 1869 ift v.' R. eifriger römifch-katho-