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Ausgabe:

1877 Nr. 22

Spalte:

594-596

Autor/Hrsg.:

Heuermann, A.

Titel/Untertitel:

Die Bedeutung der Statistik für die Ethik 1877

Rezensent:

Oettingen, Alexander

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 22.

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wiffenfchaft kein Ernft gemacht. Denn diefe bedeutet
doch, dafs es fich in der Dogmatik um die Wahrheiten
der chriftlichen Religion handelt, dafs aus ihrem We-
fen die Frageftellung in jedem Dogma zu entnehmen
ift, wie darin der Mafsftab für eine immanente Kritik
des Dogmas und die Richtfchnur für den dogmatifchen
Schriftgebrauch gegeben ift Dafs aber bei diefem Verfahren
die chriftiiehe Wahrheit an fremde Mächte ausgeliefert
werde, fleht nicht zu befürchten. Denn wenn
zwar das Wefen der Religion durch allgemeine — em-
phifche — Unterfuchungcn feftgeftellt werden mufs, fo ift 1
doch auf diefer Grundlage das eigenthümliche Wefen
der chriftlichen Religion aus der heil. Schrift zu entnehmen
, da das Chriftenthum eine gefchichtliche Gröfse
ift. Diefer Begriff von dem Wefen der chriftlichen Religion
kann dann wirklich mit Erfolg gehandhabt werden,
während das chriftiiehe Bewufstfein und die innere Erfahrung
unbeftimmte Gröfsen find. Freilich bedarf es
dann weiter einer erkenntnifstheoretifchen Unterfuchung,
wenn der Anfpruch der chriftlichen Wahrheit, allgemeine
Wahrheit zu fein, behauptet werden foll. In
der That war es niemals anders. Die Erkenntnifstheorie
der orthodoxen Dogmatik ift in ihrer Infpirationslehre
und ihrer Lehre von dem Verhältnifs der Offenbarung
zur Vernunft gegeben. Später trat an diefe Stelle die
Verhandlung über Möglichkeit, Nothwendigkeit und
Wirklichkeit der Offenbarung. Jene Infpirationslehre ift
heute aufgegeben, und die Vorausfetzung diefer Verhandlung
— eine allgemein anerkannte natürliche Religionswahrheit
— ift verfchwunden. Es ift nothwendig,
dafs wir das gleiche Bedürfnifs in einer der heutigen
Wiffenfchaft entfprechenden Weife befriedigen und nicht
die alten Titel ohne Nutzen und Zweck fortführen.
Das, was man heute als Infpirationslehre aufftellt, ift für
die wiffenfehaftliche Grundlegung der Dogmatik vollkommen
werthlos. Und die Verhandlung über Möglichkeit
etc. der Offenbarung entbehrt der Grundlage, unter
deren Vorausfetzung fie allein einen Sinn hat.

Ein weiteres das ganze betreffendes Bedenken knüpft
fich an einen Vorzug der Oofterzee'fchen Dogmatik.
Es feheint mir ein Vorzug zu fein, dafs hier die Idee
des Reiches Gottes der Eintheilung zu Grunde gelegt
ift. Aber auch davon ift dann kein genügend ausgiebiger
Gebrauch gemacht. Zwar gefchieht es an einzelnen
Punkten wie z. B. $ 55, wo der göttliche Weltplan erörtert
wird. Aber im grofsen und ganzen ift die Idee
hier mehr eine äufsere Klammer, als das alles einzelne
innerlich zufammenhaltende Band. Daher auch hier die
verfchiedenen in der orthodoxen Dogmatik gegebenen
Anfätze zu einer durchgeführten chriftlichen Weltan-
fchauung nicht zu einer wirklichen Einheit verarbeitet find.

Endlich feheint es mir dringend geboten, dafs in
einer heutigen Dogmatik die einzelnen Partien, der bib-
lifche Lehrftoff, die kirchliche Lehre und die eigene
Verarbeitung beftimmter, als hier gefchieht, auseinandertreten
. Das ift nicht blofs auch fondern ganz befonders
in einem Handbuch nothwendig, welches vor allem für
folche beftimmt ift, die erft noch unterrichtet werden
follen. Aber auch abgefehen davon ift es nothwendig,
damit das einzelne wirklich unbefangen aufgefafst werde.
So wird z. B. hier die biblifche Lehre von der Verhöhnung
nicht unabhängig von der kirchlichen Lehre
feftgeftellt, fondern von vornherein in ihrem Licht betrachtet
. Oder um etwas anderes zu nennen, man gewinnt
hier keine Einficht darin, in wie verfchiedenem
Sinn die exinanitio verftanden worden ift.

Aber alle diefe Bedenken treffen freilich nicht die
Dogmatik Oofterzee's in ihrem Unterfchied von verwandten
Werken, fondern in dem, was fie mit diefen
gemein hat. In feiner Art verdient das Buch den Beifall,
den es gefunden hat. Es zeichnet fich fowohl durch
feinen edlen Ton wie durch fein befonnenes Urtheil aus.
Bafel. }■ Kaftan.

Heuermann, Gymn.-Lehr. A., Die Bedeutung der Statistik

für die Ethik. Osnabrück 1876. (Göttingen, Vandcn-
hoeck & Ruprecht.) (34 S. 4.) M. 1. 20.

Eine faft überreiche Literatur hat fich etwa feit einem
Jahrzehnt um die Frage bewegt, welche Bedeutung der
Statiftik für die philofophifche und theologifche Moral
beizumeffen fei. Die genannte, als Schulprogramm er-
fchienene Brochüre läfst fich als ein bedeutfamer Beitrag
zu derfelben bezeichnen. Nicht auf Beleuchtung und
Ergründung der ftatiftifchen Methode oder des ftatiftifchen
Materials hat es der Verfaffer abgefehen. Seine Aufgabe
befchränkt er vielmehr auf die philofophifche Beurthei-
lung der Folgerungen, die man für die ethifche Disciplin
aus der methodifchen Maffenbeobachtung menfehlicher
Handlungen zu entnehmen verfucht hat. Und in diefer
Befchränkung leiftet der philofophifch hochgebildete Verfaffer
für die obfehwebenden Fragen und Probleme in
der That nicht wenig. Die Diction ift hier und da etwas
fchwierig und dunkel, weckt aber überall das eigene Nachdenken
und wirkt durchaus anregend. Die nicht umfangreiche
Schrift enthält eine verhältnifsmäfsig grofse Pulle
folid gruppirten literarifchen Materials und ftellt die ent-
fcheidenden Gefichtspunkte für die Beurtheilung in feffeln
der und meift lichtvoller Weife dar, —■ allerdings mehr
für den Philofophen und Pfychologen, während die fpe-
eififeh religiöfen Probleme chriftlicher Ethik kaum berührt
werden. Gleichwohl kann auch der Theolog
Manches aus der fein gedachten Abhandlung lernen.

Einleitend orientirt uns der Verfaffer über die bisherigen
Leiftungen auf dem genannten Gebiete. Referent
kann es fich nur zur Ehre anrechnen, dafs feine 2. Aufl.
der Moralftatiftik (1874), fowie feine focialethifche Grundanficht
einer fehr ausführlichen, wenn auch in der Haupt-
fachc ablehnenden Kritik (S. 4 ff. etc.) unterzogen wird.
I Da diefe kurze Anzeige nicht den Zweck haben kann,
eine Vertheidigung der eigenen Auffaffung des Referenten
durchzuführen, fo erlaubt er fich möglichft objectiv über
den Gedankengang der jedenfalls fehr gehaltvollen Schrift
zu berichten und die ihm fraglich erfcheinenden Momente
anzudeuten, um durch diefe ganze Anzeige feinen aufrichtigen
Dank für die eingehende Beurtheilung dem
geehrten Verfaffer öffentlich auszufprechen.

Nachdem Heuermann in der Einleitung (S.i—6) die
Behandlung der obfehwebenden Frage von Quetclet und
Guerry ab bis auf die Gegenwart überfichtlich dargeftellt,
knüpft er an mein Werk die P'ormulirung des Hauptproblems
felbft an: ,Ergeben fich die Gefetze, welche
j Dettingen aus der Statiftik ableitet, wirklich aus ihr?
Führen fie, wenn fie es thun, nothwendig zur Socialethik?
Und auch dies zugegeben, erweift fich diefe Socialethik
felbft als ein haltbarer Begriff, welcher keine Bedenken
darüber erregt, ob überhaupt der Statiftik ein folcher
Einflufs auf die Ethik einzuräumen fei?' — In der letzten
Frage liegt nach der Meinung des Verfaffers offenbar
die , Hauptfache'. Er feinerfeits deutet von vornherein
an, dafs er gegenüber der empirifchen Behandlung der
Ethik den idealen und imperativen Charakter derfelben
feilzuhalten gedenkt, wobei fein eigener Standpunkt — um
das fogleich zu bemerken — der Herbart'fchen refp. der
Lotze'fchen Philofophie fich anzunähern feheint (vered.
S- 33 ff.). -

Die Schrift gliedert fich in drei Abfchnitte. Der
erfte (S. 6—18; beantwortet die Frage, ,ob die Moralftatiftik
eine Gefetzmäfsigkeit menfchlichen Handelns
darthue, welche die Ethik etwa in Socialphyfik umwandeln
d. h. die Freiheit und Zurechnungsfähigkcit des
Menfchen aufheben müfste?' Diefe Frage wird namentlich
mit Beziehung auf Quetelet's ,Budget der Schaffote'
und A. Wagner's ,Gefetzmäfsigkeit in den fcheinbar willkürlichen
Handlungen' auf's Entfchiedenfte verneint. Die
Unklarheit in dem Begriff des ,ftatiftifchen Gefetzes' wird
fchlagend nachgewiefen und ebenfo der falfche Freiheits-