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Ausgabe:

1877 Nr. 18

Spalte:

494-495

Autor/Hrsg.:

Lutteroth, Henri

Titel/Untertitel:

Essai d’Interprétation des dernières parties de l’Évangile selon Saint Matthieu 1877

Rezensent:

Schürer, Emil

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 18.

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die Sprache des Neuen Teftamentes dadurch zur An- I
fchauung zu bringen, dafs er den Text desfelben mit
einer fortlaufenden Reihe von Anmerkungen begleitete,
welche fich faft ausfchliefslich mit dem Nachweis von 1
Hebraismen befchäftigen. In zweiter Linie verfolgt er
den Zweck, zu zeigen, wie zahlreich im N. T. die Aus- 1
drücke und Wendungen find, welche nur der fpäteren j
y.owij angehören. Die betreffenden Worte find in der
Regel nur im Texte durch Klammern kenntlich gemacht,
ohne dafs in den Anmerkungen näher darauf eingegangen
würde. Man kann nun freilich bezweifeln, ob eine folche
Ausgabe des Textes mit Anmerkungen, die lediglich
auf den fprachlichen Charakter des N. T.'s Rückficht 1
nehmen, und auch dies z. Th., nur andeutungsweife,
einem praktifchen Bcdürfnifs entgegenkomme. Wenn
einmal ein Text mit Anmerkungen gegeben wird, fo ift !
doch zu wünfehen, dafs dabei alle Seiten der Auslegung
berückfichtigt werden. Es fcheint eben, dafs der Verf.
das Bedürfnifs Studirender im Auge gehabt hat, die zu-
nächft bei curforifcher Leetüre nur in die Sprache des
N. T.'s eingeführt werden follen. Und für diefen Zweck ]
ift feine Ausgabe ganz nützlich. Aber auch abgefehen
davon hat fie den doppelten Werth: einmal den ftark
hebraifirenden Charakter der neuteftamentlichen Gräcität
recht deutlich ad occulos demonftrirt zu haben, und fo-
dann an einzelnen Punkten auch wirklich neues Material
beigebracht zu haben. Wir wollen in letzterer Beziehung
nur auf ein paar zufällig herausgegriffene Einzelheiten j
aufmerkfam machen. — Zu Mt. 5, 32 nagexxbg Xöyov
rtogvsiag verweifen Meyer, De Wette, Bleck, Weifs,
Grimm (Lex. s. v.) nur auf den claffifchen Gebrauch von
Xöyog in der Bedeutung ,Grund'. Mit Recht hemerkt
hiegegen G.uillemard, dafs das claffifche Xöyog in diefer ■
Bedeutung nicht in Verbindung mit einem Genetiv |
wie 7iogvelag nachweisbar ift. Er erinnert daher an J
das hebräifche -dt und erklärt: the matter of adultery, ,
the casc of adultery. (So giebt auch Delitzfch in!
feiner hebr. Ueberfetzung des N. T.'s unfere Worte ,
wieder durch: tvb i;'j:;). — Zu Mt. 9, 38 Stiatg

i/.ßctXrj sgyaxag eig xav Itsgitsunv avxov vergleicht G. fehr
treffend die Ueberfetzung von durch FitßuXXeiv bei
LXXGen. 31, 34. 44, 1. Deut. 10, 2, und von n-äpn durch
syßctXXstv II Chron. 23, 14. 29, 5, woraus zu fchliefsen,
dafs ßäXXetv in der Vulgärfprache an Kraft der Bedeutung
verloren habe. — Sehr gut find auch die kurzen
Ausführungen über den Gebrauch von bv (zu 3, 11) und
von bxt, das auch bei Einführung der directen Rede nicht ,
ganz bedeutungslos fteht (zu 7, 23). — Nicht ganz genügend
ift es, wenn G. zur Erklärung der Formel ßctotXeia
Tiov nugavwv Mt. 3, 2 nur auf Daniel 2, 42 (1. 2, 44), j
7, 14 verweift. Es wäre vor allem auch Dan. 4, 23 heranzuziehen
und hervorzuheben, dafs ,der Himmel' hier einfach
metonymifche Bezeichnung Gottes fclbft ift (vgl. 1
Jahrbb. f. prot. Theol. 1876, S. 166—187). — Hie und
da geht der Verf. in Auffuchung von Hebraismen zu
weit. So ift der Umftand, dafs in der Genealogie Matth. 1
die Namen im Nominativ den Artikel nicht haben, im
Accufativ ihn dagegen haben, nicht aus dem Einflufs des
hebr. rilj zu erklären, fondern vielmehr aus dem Bedürf- j
nifs, bei den unflectirbaren Namen den Cafus kenntlich
zu machen (Winer 18, 6). Auch der Gebrauch des j
Nominativs bei der Anrede (1, 20: ving) kann nicht als
Hebraismus bezeichnet werden, da er auch im Griechi- j
fchen nicht feiten ift (Krüger 45, 2. Kühner II, I,
S. 41. 43)- — Doch dies find nur Einzelheiten. Im j
Ganzen ift das Urtheil des Verf. ein fehr mafsvolles und j
gefundes.

Leipzig. . E. Schürer.

Lutteroth, Henri , Essai (Interpretation des dernieres
parties de l'Evangiie selon Saint Matthieu. Chapitres
XIV—XXVIII. Paris 1876, Sandoz et Fischbacher.
(VIII, 568 p. gr. 8.)

Diefer Erklärung ,der letzten Abfchnitte' des Evangeliums
Matthäi ift bereits früher (1860 -1867) eme Erklärung
der erften Abfchnitte (C. I—XIII) in 3 Abtheilungen
vorausgegangen. Mit diefen zufammen bildet
alfo das nun vorliegende Werk einen vollftändigen Com=
mentar zu Matthäus. Die Einrichtung des Werkes ift
die, dafs der griechifche Text in kleinen Abfchnitten
vollftändig abgedruckt wird, daneben eine franzöfifche
Ueberfetzung; und auf jeden Abfchnitt folgt dann die
ziemlich ausführliche Firklärung.

Schon ein Blick auf den Text lehrt uns, wie es mit
den kritifchen Grundfätzen des Verfaffers beftellt ift.
Diefer ift nämlich durchgängig der fog. textus reeeptus.
Von anderen Lesarten erfährt man in der Regel gar
nichts. Und wenn einmal eine vereinzelte Notiz der
Art vorkommt, dann lautet fie etwa wie bei c. 23, 14
(p. 280): ce verset manque dans plusicurs mahuscrits.
Dafs aber diefe plusieurs matiuscrits die ausfchlaggeben-
den find (nBDLZ), und dafs deshalb der ganze Vers
mit Lachmann, Tregelles, Tifchendorf entfehieden zu
ftreichen ift, davon bekommt man auch hier keine Ahnung.
Mit einem Wort: die ganze textkritifchc Arbeit der letzten
Jahrhunderte, von Bentley, Mill, Bengel und Wet-
ftein bis auf Griesbach, Lachmann, Tregelles und Tifchendorf
exiftirt für unfern Verfaffcr einfach gar nicht.
Statt von ihr Notiz zu nehmen, druckt er in aller Harm-
lofigkeit einen Texfab, der fo ziemlich der fchlechtefte
ift unter allen, die exiftiren.

Auf gleicher Stufe wie die textkritifchen ftehen die
hiftorifch-kritifchen Grundfätze des Verfaffers. Dafs das
Evangelium dem Apoftel Matthäus felbft zugefchrieben
und die Annahme von Quellenfchriften rundweg abge-
wiefen wird (p. VII), ift noch nicht einmal das Schlimmfte
— obwohl doch heutzutage die Anerkennung von Quellenfchriften
von Jedem, der überhaupt in der Wiffenfchaft
mitzählen will, gefordert werden kann. Aber noch viel
bedenklicher als diefe Ablehnung aller Kritik find die
pofitiven Aufftellungen des Verfaffers. Nach feiner Anficht
hat der Apoftel bei Abfaffung feiner Schrift den
Zweck verfolgt, Materialien zufammenzuftellen, die ihm
bei der mündlichen polemifchen Auseinanderfctzung mit
den Juden als Grundlage dienen konnten für den Nachweis
des Gegenfatzes zwifchen dem geiftigen Meffiasreich
der Propheten und dem irdifchen Meffiasreich der Juden
(p. V). Wie diefe etwas feltfame Zweckbeftimmung gemeint
ift, zeigt fich mit voller Klarheit erft bei den Ausführungen
des Appendix (p. 529—568) über die Abfaf-
fungszeit des Evangeliums. Die Feftflellung der letzteren
gewinnt der Verf. hauptfächlich durch eine höchft in-
geniöfe Auslegung der Hauptftelle bei Irenaeus III, 1,
1 = Eufeb. V, 8, 2: 'ö itiv dt) MetzUctiog ev xmg'EßQttiotg
tij lötet ctvxcüv öiaXexxo) xeri, ygacprjv e!;r}veyxev evayyeXlor,
cov lltxgov xat xov JlavXov bv 'Ptöftrj evctyysXitoitävwv
xru IreneXiovpxeov xi]v lyy.Xr/aiav. Hieraus gewinnt der
Verf. das Refultat, dafs das Matthäusevangelium vor
dem J. 44 gefchrieben ift. Denn Petrus kam wahrfchein-
Hch im J. 44 nach Rom (S. 541). Irenaeus fagt aber,
dafs Matthäus fein Evangelium unter den dortigen Hebräern
verbreitete (l^ijveyxev), während Petrus und
Paulus in Rom predigten, s^rjvsyxev heifst ja nicht: ,er
verfafste', fondern ,er verbreitete' (S. 547 ff.j. Und diefe
Verbreitung gefchah gleichzeitig mit der Predigt des
Petrus und des Paulus in Rom, d. h. fie begann im J.
44. Ein wenig vorher mufs alfo Matthäus bereits mit
feinem Evangelium dorthin gekommen fein. Und es
leiftete ihm nun auch hier, wie früher fchon in Paläftina,
treffliche Dienfte bei der Bekämpfung der jüdifchen Illu-
fionen S. 540 f.).