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Ausgabe:

1877 Nr. 13

Spalte:

365-366

Autor/Hrsg.:

Hesse, Fr. H.

Titel/Untertitel:

Der terministische Streit. Ein Bild theologischen Lebens aus den Gränzjahren des 17. und 18. Jahrh 1877

Rezensent:

Ritschl, Albrecht

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365

Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 13.

366

von Mainz, vom 1. December 1521, und die Schreiben,
die Luther Anfang März des folgendes Jahres an feinen
Kurfürften gerichtet, zur Rechtfertigung feiner Rückkehr
nach Wittenberg, nicht vollftändig abgedruckt find, fondern
nur wie in einem Inhaltsverzeichnifs aufgenommen,
ift völlig unverftändlich. Aber als Zugabe zum Bädeker
für Thüringen mag das Schriftchen immerhin auf der
Wartburg verkauft werden, neben der anderen Literatur
, die im Hof der Wartburg uns angeboten wird, und
die ihren Werth doch nur darin hat, dafs fie der Erinnerung
an eine der geweihteften und trauteften Stätten auf
deutfchem Boden gewidmet ift.

Breslau. H. Weingarten.

Hesse, Geh. K. R. Prof. Dr. Er. H., Der terministische

Streit. Ein Bild theologifchen Lebens aus den Gränz-
jahren des 17. und 18. Jahrh. Giefsen 1877, Ricker.
(XVI, 471 S. gr. 8.) M. 8. —

Die Lehre von der allgemeinen und unbefchränkten
Gnade, welche in der ftationären lutherifchen Dogmatik
herkömmlich, und welche dort durch keine Lehre vom
chriftlich-fittlichen Charakter ergänzt ift, hat im 17. Jahrh.
in der lutherifchen Kirche einen hohen Grad von Schlaffheit
des fittlichen Urtheils nach fich gezogen. Die offi-
ciellen Leichenpredigten liefsen den hohen Herren das
Lafter der Trunkenheit und die Gewiffenlofigkeit in ihrem
Beruf nachfichtig hingehen, wenn fie nur der Gnadenverkündigung
der Predigt ihre regelmäfsige Aufmerkfam-
keit nicht vertagten ; und eine fpäteReuc auf dem Todten-
bett wurde als zureichende Bedingung für die in Gottes
Gnade ftets offen flehende Seligkeit anerkannt. Es ift bekannt
, dafs der feelforgerifche Ernft von Spener folchem
Verfahren in mannigfacher Weife entgegenzuwirken
fuchte, ohne dafs er dem Charakter der lutherifchen Dogmatik
untreu wurde, oder aus ihrem Rahmen heraustrat.
Diefes ift nun auch der Fall mit feinem wiederholt aus-
gefprochenen Satze, dafs die Wiederholung der Bufse
nicht unter allen Umftändcn möglich, fondern dafs ihr
durch Gott eine Grenze gefetzt fei, über welche hinaus
er feine Gnade nicht mehr verleihe. Wenn diefer Satz
in der Form einer allgemeinen Warnung, und nicht als
Mafs des Urtheils über beftimmte Fälle ausgefprochen
wurde, fo brauchte er nicht in Widerfpruch mit der allgemeinen
Gnade zu treten, welche auch die lutherifche
Predigt durch die Empfänglichkeit des Glaubens bedingt
fein liefs. Zugleich aber entfpricht es dem rein dogma-
tifchen Zuge der lutherifchen Lehre, dafs Spener die
Unfähigkeit zur Bufse auf die Vermuthung eines von
Gott gefetzten Gnadentermins zurückführte, anftatt die-
felbc ethifch aus einer wahrfcheinlichen Verftockung des I
Willens abzuleiten. — Zu einer öffentlichen Strcitver-
handlung über diefe Lehre kam es, als ein Diakonus I
Böfe in Sorau 1698 die Behauptung des Gnadentermins
in der Schärfe vortrug, dafs Gott in voller Freiheit je- 1
dem Menfchen bald eine längere bald eine kürzere Frift j
fetze, innerhalb deren allein eine Bekehrung möglich fei. |
Diefe Darftellung näherte fich dem Calvinismus zu deutlich
, als dafs nicht eine Gegenwirkung zu erwarten war. J
Dicfelbe ging von einigen der nächften Amtsgenoffen j
Böfe's aus; da aber alsbald die benachbarten theologifchen
Facultäten in den Streit hineingezogen wurden, fo kam
derfelbe zu gröfserer Oeffentlichkcit. Deshalb erlofch
er auch nicht, als B. nach zwei Jahren ftarb; vielmehr
erweiterte fich der Skandal dadurch, dafs zwei Mitglieder
der Leipziger theol. FMcultät fich zu Vertretern der entgegengefetzten
Anflehten hergaben, Rechenberg für die
Behauptung, Ittig für die Verneinung des Gnadenzieles.
Jener hat nur die Vorficht geübt, die von Gott aus gefetzte
Unmöglichkeit der Bekehrung auf die Verftockten
und Widcrftrebendcn zu befchränken; eine Anficht,
welche wenigftens ethifch orientirt ift, und aus der h.

Schrift begründet werden kann. Die Gegner vermochten
durch das Uebergewicht der Zeugnifse der h. Schrift für
die Allgemeinheit der göttlichen Gnade die bezeichnete
Einfchränkungderfelben nicht zu befeitigen; fie erinnerten
aber nicht ohne Grund daran, dafs wenn die Wider-
ftrebenden fich nicht bekehren können, eben ihr Wider-
ftreben eine F"ortwirkung der Gnade und nicht ein Aufhören
derfelben vorausfetze. Bei der für beide TheHe
feftftehenden Abhängigkeit der Theologie von der Auc-
torität der h. Sehr, unterliegt es auch keinem Zweifel,
dafs die dogmatifche Faffung des Titels: terminus gratiae
peremtorius unberechtigt ift. — Ueber diefen terminifti-
fchen Streit urtheilt nun der ehrliche J. G. Walch (Re-
ligions-ftreitigkeiten in der lutherifchen Kirche II. S. 857):
,Man kann wohl fagen, dals unter allen neueren Streitigkeiten
, wodurch unfere Kirche beunruhiget worden, die
terminiftifche Controvers nicht nur die weitläufigfte, da
über eine einzige Sache fo viel Schriften herauskommen,
als wohl fonft bei keinem Streit mag gefchehen fein;
fondern auch die betrübtefte, welche ohne Wehmuth
nach allen ihren Umftänden nicht kann erwogen und
vorgeftellet werden'. Das vorliegende Werk dient nur zur
vollen Beftätigung diefer Worte. Der Verf. desfelben
eröffnet aber in der Vorrede auch noch diefes, dafs der
Streit dogmatifch unfruchtbar, und dafs feine Darftellung
ein Gemälde voll tiefer Schatten fei, welches nur Niederdrückendes
und nichts Erhebendes darbiete. Wird er dem
Ref. verdenken können, dafs ihn die von Walch bezeugte
Wehmuth verhindert hat, das Buch wirklich durch-
zulefen? Diefe .Zurfchauftellung des Häfslichen' hat auch
nicht, wie der Verf. meint, das Verdienft, zeitgemäfs zu
fein. Denn wer foll durch diefe Schilderung theologifcher
Kleinmeifterei und fittlicher Rohheit gegenwärtig gewarnt
oder befchämt werden? Diefer Zweck fällt einfach deshalb
weg, weil theologifche Streitigkeiten nicht mehr im
Vordergrund des öffentlichen Intereffes flehen, wie vor
200 Jahren. Deshalb werden fie in der Verborgenheit
der kirchlichen Zeitfchriften kurzer Fland abgemacht,
und der in diefer Literatur angefochtene oder auch verleumdete
Theolog kann darauf rechnen, dafs fein einfaches
Schweigen ihn am ficherften von folchen Gegnern
befreit. Allerdings hat Herr Heffe darin Recht, dafs die
Epoche des Pietismus eine fleifsigere Erforfchung verdiene
, als ihr bisher zu Theil geworden ift. Allein m.
E. gehört dazu nichts weniger, als die erneute Durcharbeitung
der Gefchichte der theologifchen Streitigkeiten,
welche von Spener bis Löfcher reichen. Diefe kann
man einfach dahingcftellt fein laffen. Denn fie beweifen
nur, dafs die lutherifchen Theologen den Wald vor
Bäumen nicht gefehen haben, wie auch noch in manchen
anderen Fällen. Aus den obrigkeitlichen Mandaten,
welche J. G. Walch feiner Darftellung eingereiht hat,
lernt man den Pietismus beffer kennen, als aus allen
Controvcrfen, mit denen fich die Theologen gleichzeitig
die Zeit vertrieben haben. Endlich ftimme ich aber dem
Wunfeh des Herrn Verf. nach erneuter Durchforfchung
der Periode des Pietismus darum bei, weil es nöthig ift,
die Sage von der reformatorifchen Bedeutung Spener's
für die lutherifche Kirche, zu welcher auch er fich in
der Einleitung zu feinem Werke bekennt, abzuthun.
Spener hat vielmehr durch die Protection, welche er
einer von ihm nicht beabfichtigten Bewegung angedeihen
liefs, einer der lutherifchen Reformation fremdartigen
oder eigentlich ihr entgegengefetzten Richtung die Thore
der lutherifchen Kirche geöffnet.

Göttingen. A. Ritfchl.