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Ausgabe:

1877 Nr. 13

Spalte:

351-354

Autor/Hrsg.:

Weiss, J. H.

Titel/Untertitel:

Zur Geschichte der jüdischen Tradition. 2 Thle 1877

Rezensent:

Strack, Hermann L.

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr, 13.

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Weiss, Lect. J. H., Zur Geschichte der jüdischen Tradition.

1. Thl. Von den älteften Zeiten bis zur Zerftörung
des 2. Tempels. 2. Thl. Von der Zerftörung des

2. Tempels bis zum Abfchlufs der Mifchna. Wien
(1871—76), Brüder Winter. (VIII, 264 u. XIV, 242 S.
hebr. Text. gr. 8.) M. 10. —

In den letzten beiden Jahrzehnten haben drei hervorragende
jüdifche Gelehrte ausführliche Darftellungen
der Mifchnaperiode veröffentlicht: zuerft Zach. Frankel
, in weiten Kreifen bekannt geworden als Director
des (jetzt von Prof. Grätz geleiteten) Breslauer Rabbiner-
Seminars und als Begründer der ,Monatsfchrift für Ge-
fchichte und Wiffenfchaft des Judenthums'. Von feinem
auf drei Bände berechneten Werke ,Hodegetica in Misch-
nam hbrosque cum ea cqniwncios1 {Darkhe ha-Mi schnei
) ift leider nur der erfte Band erfchienen mit dem
Sondertitel ,Introductio in Misclinani [P'thicha leha-
Misclina, Leipzig 1859 {,Additamenta et index ad Hb nun
Hod. in Mischnani, daf. 1867,. Dafs diefe Arbeit unvollendet
blieb, ift fehr zu bedauern, da Frankel durch
die Darlegung feiner Anflehten die Wiffenfchaft fowohl
direct als auch indirect (letzteres durch Erregung von
Widerfpruch und Anregung zu weiteren Forfchungen)
vielfach förderte. — Auf felbftändigen Studien beruht,
aber mit fteter Rückficht auf das eben genannte
Buch gefchrieben ift die ,Einleitung in die Mifchnah, enthaltend
das Leben und die Lehrmethode der Gefetzes-
lehrer von Efra bis zum Abfchluffe der Mifchnah von
Jacob Brüll, Rabbiner' (M'bo lia-Mischna, Frankfurt
a. M. 1876). Ein zweiter Band, den der Verfaffer in der
Vorrede verheifst, foll uns mit den Studien des gelehrten
Talmudiften über Inhalt, Form und Zweck der Mifchna
bekannt machen.

Frankel und Brüll laffen die Perfonen in den Vordergrund
treten, berichten alfo vorwiegend über das
Leben und das Lehren der einzelnen Tannai'm; Weifs
giebt mehr zufammenhangende Gefchichte und liefert
treffliche Beiträge zu einer Darftellung der inneren, befon-
ders der religiöfen Entwicklung des Judenthums. Ehe
wir auf Einzelheiten eingehen, fei eine kurze Inhalts-
überficht gegeben. Das erfte Buch (Bd. I S. 1 -48), von
den älteften Zeiten bis zur Rückkehr aus dem Exil
reichend, zeigt, welche Spuren auf das Vorhandenfein
eines mündl. Gefetzes bereits in diefer Zeit hindeuten.
Zweites. Buch (S. 48 — 94): Efra, die grofse Synagoge,
Simeon der Gerechte. Den Hauptinhalt des dritten Buches
(S. 94—155) bildet die Würdigung der vier erften
Sugoth (Paare von Gefetzesautoritäten, beftehend aus
dem Nasi, Präfidenten des Synedriums, und dem Ab
beth din, dem erften Gerichtsvorfteher): 1. Jofe ben Joefer
und Jofe ben Jochanan, 2. Jofua ben Perachja u. Nithai,
2. Jehuda ben Tabbaf und Simeon b. Schetach; 4.
Schemaja und Abtaljon. Das 13. Capitel ift den Phari-
fäern, Sadducäern und Effäern gewidmet (S. 114—123).
Das vierte Buch (S. 155—196) handelt von dem fünften
Paare Hillel und Schammai, fowie von ihren beiderfeiti-
gen Anhängern (Beth Hillel, Beth Schammai). Das fünfte
Buch (S. 196—242) erörtert in fünf Abfchnitten: den
Stand des mündlichen Gefetzes in der letzten Zeit des
Tempels (die Gerichtshöfe, die verfchiedenen Arten ha-
lachifcher ßeftimmungen); Midrafch-Agada, Sefarim chi-
zonim; religiöfeVorftellungen; Verhältnifs des mündlichen
Gefetzes zu den Evangelien; Zerftörung des Tempels.
— Der zweite Band behandelt in fünf Büchern und 26
Capiteln: I. Spaltungen im Innern; 2—4. Verhältnifs der
heidnifchen Welt zu den Juden und Einwirkung der
erfteren auf das mündliche Gefetz; 5—7. Jochanan ben
Sakkai und der Gerichtshof in Jabneh; 8. Gamaliel II;
9. Eliefer ben Hyrkan und Jofua ben Chananja; 16. Ela-
far ben Afarja; 11. 12. R. Ifmael und R. Akiba, ihre
Genoffen und Schüler; 13. der Fall von Bether und Hadrian
; 14. die Judenchriften und die Juden, die Targu-
mim, Elifa ben Abuja; 15. der Gerichtshof in Ufcha, R.
Meir; 16. Jehuda ben Hai, Jofe ben Chalafta, Simeon ben
Jochai; 17. die andern Schüler des R. Akiba; 18. Simeon
III. ben Gamaliel; 19. R. Jehuda Nafi; 20. feine
Genoffen und Schüler; 21. Halacha, Midrafch, Agada;
22. Mifchna; 23. Tofefta, Aboth des R. Nathan; 24.
Mechilta, Sifra, Sifri; 25 a Baraita; 25 l! Megillath Taa-
nith, Seder Olam; 26. Schlufs.

Der reiche Inhalt der beiden Bände ift mit diefen
kurzen Worten bei weitem nicht erfchöpfend angedeutet.
Nicht nur wird die Thätigkeit vieler minder bedeutenden
Tannaim, deren Namen hier der Kürze halber nicht
aufgeführt find, gefchildert; fondern es findet fich auch,
durch das ganze Buch vertheilt, eine grofse Reihe lehrreicher
Bemerkungen und Notizen über jüdifche Rechts-
verhältnifse, talmudifche Methodologie, Gefchichte der
hebräifchen Sprache und der jüdifchen Literatur u. f. w.
Genaue Namen- und Sachregifter würden die Benutzung
des reichen in der ,Gefchichte der jüd. Tradition' zu-
fammengetragenen Materials wefentlich erleichtern. Möge
es dem Verf. gefallen, bei der Publication des dritten
Bandes (Amoräer, Seboräer, Geonim), dem wir mit be-
fondeiem Intereffe entgegenfehen, diefen Mangel zu be-
feitigen.

Eine Aufzählung aller einzelnen Meinungsverfchie-
denheiten, die gegenüber den bis jetzt erfchienenen
Theilen der im Wefentlichen den Geiger-Schorr'fchen
Standpunkt einnehmenden Arbeit des Hrn. Weifs vorgebracht
werden könnten, würde zu weit führen; auch
die Mittheilung einer gröfseren Anzahl von Berichtigungen
einzelner Stellen dürfte nur für wenige Lefer Intereffe
haben. Doch möge hier wenigftens auf einige Abfchnitte
etwas näher eingegangen werden.

In Cap. 2—4 des zweiten Bandes wird der Einflufs
des Heidenthums auf das Judenthum dargeftellt. In der
Annahme von Entlehnungen aus dem Parfismus ift der
Verf., nach Schorr, wohl hier und da weiter gegangen
als nothwendig. Der fleifsigen Arbeit von A. Kohut
,über die jüdifche Angelologie und Dämonologie in ihrer
Abhängigkeit vom Parfismus' (Abhandlungen für die

j Kunde des Morgenlandes, Band IV) gefchieht weder
II, 12 noch I, 224 Erwähnung. Das dritte Capitel (II,
19—28) erweift die moralifche Inferiorität der Griechen
und Römer an drei Beifpielen : Ehe und Unzucht, Tödten
und Ausfetzen der Kinder, Behandlung der Sclaven und
der Armen. Grofse ßelefenheit in den claffifchen Schrift-
ftellern werden wohl die wenigftenLefer von den Autoren
hebräifch gefchriebener Bücher verlangen. Sorgfame

i Benutzung einiger befonders wichtiger Schriften in deut-
fcher Sprache hätte auch für den Zweck der ,Gefch. der

I jüd. Trad.' ausgereicht. Der Verf. hat aber fämmt-

[ liehe Belegftellen aus der griechifchen wie aus der
römifchen Literatur aus einem Werke entlehnt, das er
zwar mehrfach citirt, deffen wahres Verhältnifs zu feiner

1 Arbeit er aber nirgends angiebt, nämlich aus dem reichhaltigen
,Heidenthum und Judenthum. Vorhalle zur
Gefchichte des Chriftenthums. Von Joh. Jof. Ign.

I Döllinger, Regensburg 1857 (XXIV, 885 S.). Beim
Abfchreiben haben fich nun einige Fehler eingefchlichen.
Dafs drei oder vier Männer nicht feiten eine Frau ge-
meinfchaftlich hatten, erzählt Polybius nicht von den
Macedoniern 'W. II, 21 ob.), fondern von den Lacedä-
moniern (Doli. 682). Statt ,Tac. Ann. 2,3$' (W. 21 unt.)
hat Doli. 720 richtig ,Tac. Ann. 2,85. Suet. Tib. 35'.
Aus ,Dionys. 2,15' (Doli. 715) macht Weifs ,15,2'; ,Dig.1
wird zweimal in ,Digesta,el verwandelt. Die Mifsver-
ftändnifse Döllinger's kehren natürlich bei feinem hebräifchen
Nachfolger wieder: drei Beifpiele bietet Weifs
S. 27 = Doli. 723. Von den eigentlichen Almofen an
Arme ift in Cicero's de qffieiis nirgends die Rede. Sollte
diefe Schrift angeführt werden, fo waren ftatt 1,16 für

I die beneficentia und liberalitas beffer 2,16. 19. 20 zu citi-