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Ausgabe:

1877

Spalte:

326-333

Autor/Hrsg.:

Grau, Rud. Friedr.

Titel/Untertitel:

Ursprünge und Ziele unserer Kulturentwicklung 1877

Rezensent:

Kähler, Martin

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hinter der hoffnungsvollen Entwerfung von Umriffen zukünftiger
Erfolge der von ihm befürworteten Erneuerung
der kirchlichen Eehre. Hierin bewährt fielt, dafs der
Verf. in der religiöfen Stimmung fich gleich geblieben
ift, indem feine theologifche Anficht den bedeutenden
Umfchwung erfahren hat; dies will ich aber nicht ihm
zu Ungunften gefügt haben.

Der Verf. von No. 2 bringt die Idee von dem gegenwärtigen
Reiche Gottes, den Grundgedanken des ganzen
Evangeliums, den Schlüffel für die richtige Würdigung
der allfeitigen Aufgaben des menfehlichen Geiftes, zu
deutlicherer Anfchauung. Die beiden Vorträge: ,Chriftus
als der Herr des Reiches Gottes'; ,das Reich Gottes als
das höchfte Gut der Menfchheit' — bieten eine wirklich
erfchöpfende Darftellung des religiöfen Werthes und der
ethifchen Anwendung des chriftlichen Grundgedankens
in lebhafter und klarer Rede. Auch diefer Theolog ift
fich bewufst, dafs man erft unter der Idee des Reiches
Gottes das Chriftenthum wirklich und ganz kennen lernt,
und dafs die Methode der Eührung der einzelnen Seelen
zu Chriftus und ihrer Vorbereitung zum feiigen Leben
im Himmel unvollftändig. und der Grund davon ift, dafs
fo Viele am Chriftenthum irre geworden find. Dcmge-
mäfs führt diefer Verf. auch Formen der Betrachtung
ein, welche bisher in der Theologie nicht üblich waren.
Chrifti Heilswirken ift zu meffen nach feinem Berufe
zur Gründung des Gottesreiches; an ihm hat er bis an's
Ende feftgehalten, fein Lebenszweck und der Endzweck,
den Gott mit der Welt hat, ift Einer und derfelbe, und
darauf beruht feine Einheit mit Gott (S. io). Das
Reich Gottes ferner, wie es als die ftets gegenwärtige
Aufgabe feiner Glieder deren fittliches Handeln motivirt,
wird in jedem Lebensberuf verwirklicht, und es kommt
darauf an, in diefer Einfchränkung eine qualitative Vollkommenheit
zu erreichen. Das find Gefichtspunkte, welche
mit der pietiftifchen Orthodoxie unferer Zeit nichts mehr
gemein haben. Wenn ich daneben darauf aufmerkfam machen
darf, worin ich mit dem Verf. nicht übereinftimme,
fo ift es die Stellung zum Reiche Gottes, welche er der
Kirche einräumt; das ift aber auch eine fchwierige Frage,
welche hier nicht im Vorbeigehen gelöft werden kann.
Dann aber finde ich den Gefammttitel der Schrift ,die
chriftliche Weltanfchauung' zu weitläufig für ihren Inhalt.
Zur chriftlichen Weltanfchauung gehört auch noch die
Art, wie der Chrift aus feiner Verformung heraus die
Welt und feine Stellung in ihr, Leid und Freude, der
liebevollen Vorfehung Gottes unferes Vaters unterordnet,
und demgemäfs im Glück die Demuth, im Unglück die
Geduld übt. Das ift eben fo wichtig als der Glaube an
das Gottesreich und die Uebung feiner Gerechtigkeit,
und bildet den anderen Pol der Weltanfchauung und Lebensführung
des Chriften.

No. 3 zeigt, dafs die Arbeit, welche unter den Griechen
und Römern geringgefchätzt und des freien Mannes
unwürdig geachtet wurde, im Lichte der altteftamentlich.cn
Religion als ein hohes Gut anerkannt, von Chriftus als
das Bild der Theilnahme am Reiche Gottes ausgezeichnet,
von Paulus als nothwendige Bedingung der perfönlichen
Selbftändigkcit in der chriftlichen Gemeinde gefordert
wird. In einem gedrängten Ueberblick der Gefchichte
führt der Verf. weiterhin aus, dafs im Mittelalter die Arbeit
hochgeachtet, namentlich gegen den Handel bevorzugt
wird, dafs aber diefer Anficht die Hochfehätzung
der Befchaulichkeit des Klofterlebens als des Ideals chrift-
licher Vollkommenheit in fchneidendem Widcrfpruche
gegenüber fteht, welchen erft Luther durch den Grund-
fatz gelöft hat, dafs die chriftliche Vollkommenheit gerade
in der Form einer jeden Berufsarbeit erreicht werde.
Von diefem Standpunkt aus, der auch in der Augsburger
Confeffion und ihrer Apologie deutlich bezeichnet
ift, ergiebt fich die Regel, dafs die Arbeit als Bedingung
der perfönlichen Selbftändigkeit und als die Form des
gemeinnützigen Strebens in allen Berufen fich dem Zwecke

des Reiches Gottes unterordnet, und in dem Ziele der
chriftlichen Vollkommenheit eingefchloffen ift. Der Verf.
beleuchtet nach diefer Regel die Socialdemokratie in
lehrreicher Weife und zeigt, dafs diefelbe ebenfo nahe
Beziehungen zu mittelalterigcn Idealen hat, als fie durch
ihre Tendenz auf Genufs die Arbeit verunehrt und dem
Chriftenthum widerfpricht. Die Grenzen des Vortrages
bringen es mit fich, dafs der dargebotene Stoff nur frag-
mentarifch ift: ich will alfo keinen Anfpruch gegen den
Verf. erheben, indem ich auf zwei wünfehenswerthe Ergänzungen
feines gefchichtlichen Ganges hinweife. Das
abendländifche Mönchthum ift trotz feiner vorherrfchen-
den Tendenz auf befchaulich.es Leben doch nicht der
Faulheit zu zeihen; gerade die Benedictiner-Regel fchreibt
die Feldarbeit vor; und welche Vorbilder der Arbeit-
famkeit bieten auch die Bettelorden in der Wiffenfchaft
und in dem, was man jetzt innere Miktion nennt! Ferner
ift die Schätzung der Berufsarbeit durch die Reformatoren
des 16. Jahrhunderts freilich ein Epoche machendes
Datum, welches der modernen europäifchen Gefell-
fchaft ihre Gepräge verliehen hat. Aber die kirchliche
Lehrüberlieferung ift deffen nicht gerade eingedenk ge-
wefen. Der Rückgang zu der Befchaulichkeit, welcher
in Dogmatik und Erbauungsbüchern vollzogen ift, hat
vielmehr die Werthfehätzung der Arbeit im bürgerlichen
Beruf in Vergeffenheit gebracht. Joh. Arnd beurtheilt
denfclben nur danach, dafs der Chriften Erbe und Güter
nicht in diefer Welt find, und dafs fie deshalb das Zeitliche
als Fremdlinge fich gebrauchen follen. Und vielleicht
erinnert fich der befreundete Verf. noch des Falles,
dafs die Arbeit einmal nach dem Locus der lutherifchen
I Dogmatik von der Werthlofigkeit der Werkgerechtigkeit
beurtheilt wurde! Wer die ordinäre lutherifche Dogmatik
als Kanon des ganzen Chriftenthums auffafst, — und
dazu werden fo Viele angeleitet — kann auch nur das
befchauliche Leben der poenitentia von der contritio bis
zur laetitia spiritualis werthfehätzen. Die Arbeit gehört
dann blos zur justitia civilis! Es liegt ein vollftändiger
Bruch mit der hergebrachten lutherifchen Form der Befchaulichkeit
den Ausführungen von Uhlhorn zu Grunde;
aber nur unter diefer Bedingung kann man den Ruckgang
auf die werthvollften Beftimmungen des lutherifchen
Bekenntnisses und des echten chriftlichen Lebensideales
finden.

Göttingen. A. Ritfchl.

[. Scharling, Prof. C. Henrik, Humanität und Christenthum
in ihrer geschichtlichen Entwicklung oder Philo-
fophie der Gefchichte aus chriftlichem Gefichtspunkte.
Ausdem Dänifchenvon A1. Michelfen.2Thle. Gütersloh
1874 u. 75, Bertelsmann. (432 u. IX, 545 S.
gr. 8.) M. 14. -
2. Grau. Prof. Rud. Friedr., Ursprünge und Ziele unserer
Kulturentwickelung. Gütersloh 1875, Bertelsmann.
(VI, 280 S. gr. 8.) M. 4. —
Man lernt Gefchichte, um etwas von ihr zu lernen,
und kann fich nicht mit dem Ertrage für diefc oder jene
Technik begnügen; vielmehr empfindet jede Weltanfchauung
das Bedürfnifs, ihre Auffaffung vom Mcnfchen
an dem Ganzen der Gefchichte zu erproben. Daher
flammt die Philofophie der Geich., und wenn heute bei
den Exactcn alle Philofophie in Verdacht ift, fo vermeidet
man wohl den Namen, der Sache nach aber find
die beliebten Gefchichten der Cultur oder der Civilifation
nur die Bemühungen des modernen Naturalismus, den
Gefchichtsbcweis für fich zu erbringen. Mit mehr Recht
1 wird das chriftliche Denken diefen Weg einfchlagen, denn
[ die Gefchichte ift die Heimath des perfönlichen Lebens
1 und feiner Seele, der Religion; eben dahin weift die Bibel
mit ihrem univerfalhiftorifchen Grundzuge. In diefem