Recherche – Detailansicht
Ausgabe: | 1877 |
Spalte: | 323-326 |
Autor/Hrsg.: | Reinhardt, L. |
Titel/Untertitel: | Was fehlt uns? 1877 |
Rezensent: | Ritschl, Albrecht |
Ansicht Scan: | |
Download Scan: |
Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 12.
324
zu empfehlenden Abfchnitt über die evangelifchen
Schulen im Gegenfatz zu den fog. confeffionslofen, d. h.
in Wirklichkeit katholifchen Schulen bei.
Was den Gedanken betrifft, von dem der Verfaffer
ausgeht, der Nothwendigkeit feftorganifirter ,Evangelifa-
tionsarbeit', fo erfcheint der noch als von fehr zweifelhafter
Richtigkeit. Die Kirche hat den Auftrag zu
miffioniren erhalten; wenn fie das vernachläffigt, fo
verfäumt fie ihre Pflicht. Sie foll ferner ihr Licht leuchten
laffen vor den Leuten und überall, wo ihr eine Stätte
gegeben ift in römifchen Landen, das reine evangelifche
Wort verkünden. Aber den Auftrag, Propaganda zu
treiben in den Gebieten anderer chriftlicher Confeffionen
hat kein Theil der Kirche. So ift es denn Aufgabe und
Pflicht der evangelifchen Kirche Deutfchlands, wie z. ß.
die Waldenfer in Italien fo die evangelifchen Gemeinden
in Böhmen zu unterltützen und fie zu kräftigen zur Erfüllung
auch der Aufgaben, die ihnen an der römifch-
katholifchen Bevölkerung, unter der fie leben, gegeben
find. Dafs jedoch fie felbft unter diefe letztere Bevölkerung
Sendboten ausgehen laffe, wird man nicht als
ihre Pflicht bezeichnen können. — Ueber manches Ur-
theil, das der Verf. im Verlauf feiner Darlegung aus-
fpricht, wird man mit ihm rechten dürfen, und ob all'
die genauen Einzelangaben, die er macht, richtig find,
kann natürlich nur Jemand entfcheiden, der noch beffer
als er im Lande bekannt ift. Die Gefammtdarftellung
aber ift eine recht gute. Man erhält ein klares, anfchau-
liches und lebendiges Bild vom,Evangelium in Böhmen',
und das Schriftchen wird hoffentlich dazu dienen, bei
den Evangelifchen Deutfchlands die thatkräftige Theil-
nahme für die dortigen Glaubensgenoffen zu mehren.
Erlangen. G. Plitt.
n Reinhardt,Pfr.L.,Wasfehltuns? oderdiebiblifcheLehre
von dem auf Erden kommenden Reiche Gottes das
Bedürfnifs unferer Zeit. Bafel 1874, Bahnmaier. (104 S.
gr. 8.) M. 1. —
2. Mühlhäusser, Dr., Die christliche Weltanschauung. Zwei
Vorträge. Frankfurt a/M. 1876, Zimmer. (52 S. gr. 8.;
M. 1. —
3. Uhlhorn, Ob.-Confift.-R. Dr. G.j Die Arbeit im Lichte
des Evangeliums betrachtet. Vortrag. Bremen 1877,
Müller. (41 S. 8). M. — 75.
Als gegen den Schlufs des vorigen Jahrhunderts der
gröfste Theil des Lehrftandes der evangelifchen Kirchen
in Deutfchland dem Rationalismus huldigte, fanden die
dietiften, welche bis dahin in fchrofferer oder milderer
Weife von dem öffentlichen Gottesdienft fich abgefon-
• lert hielten, den Anlafs, als die eigentlichen Vertreter
der evangelifchen Kirche hervorzutreten. Sie begründeten
ihren Anfpruch darauf, dafs fie an den Dogmen
der kirchlichen Lehre fefthielten, welchen die öffentlichen
Diener der Kirche untreu geworden feien. Eine rcligiös-
iittliche Gefammtanfchauung freilich vermochten fie der
ratio naliftifchen Moralität nicht entgegenzufetzen; vielmehr
war der von ihnen aufgebotene Mafsftab der
Chriftlichkeit fragmentarifch und unficher. Als Chriften
wollten fie nur die gelten laffen, welche die Erbfünde,
die Gottheit und die Strafgenugthuung Chrifti, fowic die
Infpiration der Bibel anerkannten. Wie diefe Erkennt-
nifse nothwendig das chriftliche Leben beftimmen, kam
jedoch ebenfo wenig zur Klarheit, als die Methode des
chriftlichen Lebens einhellig angegeben wurde. Sehr
charakteriftifch ift es, dafs der zur Etablirung des Pietismus
in der Kirche fo höchft einflufsreiche Heinrich
Jung-Stilling nach einander die Bufskampftheorie, die
quietiftifche Gelaffenheit Terfteegen's und die Herrnhu-
tifche Freudigkeit des Umgangs mit dem Heilande empfiehlt
; diefe Formen rein individueller Haltung des Le-
j bens find auch feitdem von den innerkirchlichen Pictiften
: beliebig nebeneinander geltend gemacht worden; höch-
1 Ifens ift Terfteegen's Methode zurückgeftellt worden, feit-
I dem man fich zu der Ausfchliefslichkeit lutherifchen Be-
kenntnifses entfchlofs. Der innerkirchliche Pietismus,
welcher von 1817 an öffentlich auftritt, und feit 1847 die
evangelifchen Landeskirchen faft fämmtlich beherrfcht,
i ift den gegenwärtigen Aufgaben des Lebens unferer Nation
, namentlich ihrer fittlichen Erziehung, nach welcher
j man mit Recht gewohnt ift, den Werth der Kirche zu
i beftimmen, nicht mehr gewachfen. Und wer mit Kennt-
nifs der Sachen die Epoche feit 1850 erlebt hat, konnte
vorauswiffen, dafs plötzlich einmal an den Tag treten
werde, wie wenig die Schulung in dem Bekenntnifs der
Kirche zureichen werde, um das Intereffe an ihr dem
Volke einzuprägen. Die Partei, welche feit einem Men-
1 fchenalter alle Stufen der Schule für ihren Unterricht im
[■kirchlichen Bekenntnifs zur Verfügung gehabt hat, fieht
j fich jetzt einer unkirchlichen und theilweife antichriftli-
j chen Stimmung grofser Gefellfchaftskreife gegenüberge-
j Hellt, deren Umfang erfchreckend ift. Freilich will man
j plötzlich nichts mehr von Volkskirche wiffen; fondern
1 jetzt will man fich auf fich felbfl, die Gemeinde der Hei-
1 ligen, zurückziehen, wie ich im Januarheft 1876 der Zeit-
fchrift für Proteftantismus und Kirche gelefen zu haben
mich erinnere. Indeffen diefe felbftgcrechte Stimmung
ift glücklicherweife nicht die allgemeine. Die oben bezeichneten
Schriften beweifen es, dafs auch andere und
beffere Mittel als bisher aufgeboten werden, um unfer
Volk beim Chriftenthum zu halten. Sie haben eine aus-
gefprochene Gemeinfchaft der religiös-fittlichen An-
fchauung in der Idee des Reiches Gottes, und diefe
fetzen fie ein, um das ganze Leben im chriftlichen Sinne
praktifch zu organifiren. — Der Verf. von No. 1 findet,
dafs die abftracte, für das praktifche Leben nicht brauchbare
Darftellung des Chriftenthums die Menfchen der
Kirche entfremdet. ,Wie darf aber eine Religion, welche
das diesfeitige Leben fo gering achtet, dafs fie ihm keinen
felbftändigen Endzweck zu geben weifs, fich wundern
, wenn es ihr aus den Händen entfehlüpftr' Den
Grund jener abftracten oder überwiegend transfeendenten
Geftalt des Chriftenthums erkennt der Verfaffer mit Recht
in der Verquickung von Piatonismus und Chriftenthum,
welche in der griechifchen Epoche der Kirche vollzogen,
und im Abendlande auch durch die Reformation des
16. Jahrhunderts nicht ausgefchieden ift. Die Theorie
der Kirchengefchichtc, welche der Verf. in kurzen Zügen
entwirft, ift originell und intereflant, wenn auch manche
Sätze beanftandet werden dürften. Bei einem Mann jedoch
, der ohne Zweifel von Haufe aus Pietift ift, finde
ich es höchft bemerkenswerth, dafs er in der Erhebung
des Chriftenthums zur Staatsreligion einen grofsen Segen,
in dem Rationalismus neben deutlichen Mängeln desfel-
ben einen Fortfehritt erkennt, der fegensreich gewirkt
hat, und dafs er an der bisher verlaufenen Kirchengefchichtc
des 19. Jahrhunderts eine meift gedankenlofe
1 Rückkehr zum innerlich überlebten Alten rügt. Als
I Pietiften alten Schlages giebt fich der Verf. zu erkennen,
indem er den Chiliasmus als feinen früheren Standpunkt
bezeichnet, von welchem er fich durch diefe Schrift los-
fagt. Und zwar hat er durch das Studium der heiligen
Schrift die Ueberzeugung gewonnen, dafs das Reich
Gottes, welches Chriftus gedacht hat, in welchem wir
die Gotteskindfchaft erleben und die Heiligung üben,
nicht erft mit der fichtbaren Wiederkunft des Herrn in
Wirkung tritt, fondern durch Chriftus und feitdem immer
j im Kommen begriffen ift, für diejenigen, welche im Glauben
es an fich reifsen. Gemäfs diefer neuen Welt- und
Lebensanfchauung erwartet nun der Verf. auch eine Aen-
derung des gemeinfamen religiöfen und fittlichen Lebens.
Und darin möge er Recht behalten, wenn auch die Durchführung
feines Gedankens im Einzelnen, namentlich die
Feltftellung beftimmter fittlicher Grundfätze zurücktritt