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Ausgabe:

1877 Nr. 12

Spalte:

319-322

Autor/Hrsg.:

Weiss, Berhard

Titel/Untertitel:

Das Matthäusevangelium und seine Lucas-Parallelen erklärt 1877

Rezensent:

Mangold, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 12

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giebt ihm zu jener Gleichung das Recht? — Die mofaifche
Redaction des Pentateuchs beweife auch, dafs zu Jofephus'
Zeit die Juden oft denfelben auswendig gelernt haben,
was doch nur mit einem Buche von grofser Bedeutung
gefchehen wäre. Inwiefern Beides im Zufammenhange
ftehe, erläutert er nicht: der unkundige Lefer mufs meinen,
jenes Memoriren habe bald nach Mofis Tod begonnen.
Die Hebräer müfsten weder eine Kenntnifs ihrer Vergangenheit
, noch Ueberlieferungen, noch Annalen gehabt
haben, wäre es möglich gewefen, fie mit Fictionen, wie
fie der Pent. angeblich bieten foll, zu täufchen! Aber
wer bürgt für die Richtigkeit jener Ueberlieferungen?
Und es ift hochkomifch: dem guten Manne kommt der
unendlich einfache Gedanke, der heute in jedem Buche
zu finden ift, nicht in den Sinn, dafs wir im Pentateuche
eben den Niederfchlag jener hebräifchen Ueberlieferungen
haben und daher an einen Widerfpruch zwifchen feinem
Inhalt und diefen Traditionen zu denken abfurd ift. Dafs
natürlich ,Tora' überall den Pentateuch bedeute, verfteht
fich bei einem folchen Manne von felbft; dafs felbft das
Gegentheil für die Zeit bis Esra nachgewiefen ift, ahnt
er nicht. Die Sehorgane folcher Leute, wie der Ver-
faffer, find ganz merkwürdig. Viele Bethfemefchiten
fterben nach 1 Sam. 6, 9, weil fie die Bundeslade fehen.
Das foll augenfällige Beftätigung des B. Nurrieri fein, wo !
Sehen und Berühren der Lade ftreng verboten ift. Dafs
aber die Aufhellung derfelben auf einen erhöhten Platz,
ohne alle Bedeckung, der pentat. Anfchauung fcharf
widerfpricht, das bemerken fie nicht. Natürlich auch
nicht alle die cultifchen Diffonanzen der gefchichtl. Bb.
mit Leviticus, die Hr. Sch. nicht einmal bemerkt, viel
weniger löft. — Doch genug. Hr. Sch. hat keine Ahnung
davon, wie heute die Pentateuchfrage fteht. Er erfindet
Gegenfätze und kämpft dann gegen diefe Windmühlen.
Seine Methode ift aber fchlechter als fchülerhaft. Will
er auch als Apologet (denn dafs er es ift, verargen wir
ihm durchaus nicht) auftreten, fo mufs er nicht mit Argumenten
fechten, deren Beweiskraft nur unter Annahme i
der abfurdeften Prämiffen möglich ift.

Tübingen. . L. Dieftel.

Weiss, Confift.-R. Prof. Dr. Bernh., Das Matthäusevange- 1
lium und seine Lucas-Parallelen erklärt. Halle 1876,
Buchh. d. Waifenh. (VIII, 584 S. Lex.-8.) M. 15. — ;

In allen feinen gehaltvollen Arbeiten, fo weit diefe
fich auf die Erklärung und in deren Dienft auf die Kritik
der fynoptifchen Evangelien beziehen, vertritt Bernhard
Weifs in gewiffem Sinne die Markushypothefe. Wenig-
ftens gilt auch ihm das Evangelium nach Markus für j
das ältefte unferer kanonifchen Evangelien, auf deffen
Grundlage erft die Evangelien nach Matthäus und Lukas j
crwachfen fein follen. lndefs während die eigentlichen [
Vertreter diefer Hypothefe in unferem Markusevangelium
felbft (St orr, Ritfehl), oder doch in feiner Grundfchrift,
die in unferem zweiten Evangelium nur eine leichte
Weifse. Holtzmann), oder eine tiefer eingreifende
Ueberarbeitung (We izfäcker) erfahren haben foll, eine
einheitliche originale Schrift und die ältefte Darfteilung
der evangelifchen Gefchichte finden wollen, beftreitet
W e i f s fo wohf die einheitliche Originalität des Markus- i
evangeliums , als fein Erftgeburtsrecht innerhalb der
evangelifchen Literatur. Diefes mufs es feiner Meinung 1
nach an die ältefte apoftolifche Evangelienfchrift, an die
von Papias bezeugten Logia des Matthäus abtreten. Unter ;
diefen von Matthäus gefammelten Herrnfprüchen verfteht
aber Weifs nicht etwa eine Spruchfammlung im
ftrengen Sinne; die allerdings noch nicht zu einer ge-
fchichtlichen Darfteilung des Lebens Jefu verarbeitete j
avyyQacprj, urfprünglich aramäifch gefchrieben, aber in I
unferen Evangelien fchon nur noch in griechifcher Ueber- I
fetzung benutzt, müffe, meint er, doch auch Ausfprüche, J

Reden, Gefpräche Chrifti mit ihrer gefchichtlichen Ver-
umftandung und felbft ein gutes Theil Flrzählungf ftücke,
überhaupt den älteften Beftand der apoftolifchen Ueber-
lieferung über Chriftus enthalten haben. Nun habe aber
Markus, und darin berührt fich Weifs mit Ewald, diefe
Logia fchon feiner Hauptquelle, der Petrinifchen Diegefe,
die er zur Darfteilung bringen will, zum Theil eingearbeitet
; und gerade fo weit, als diefe Zuthaten reichen,
foll auch die Originalität feines Evangeliums nicht feiten
Einbufse erleiden. Denn die aus der apoftolifchen Quelle
entlehnten Stücke bei Markus follen häufig entweder in
verkürzter, abgefchliffener oder in erweiternd und nüan-
cirend nach fchriftftellerifchen Intentionen des Evange-
liften umgebildeter Geftalt bei ihm vorliegen. So erklären
fich nach Weifs auch die unleugbar fecundären
Züge im zweiten Evangelium und damit der gefammte
Beftand desfelben ohne Zurückgreifen auf einen Urmar-
kus, der in unferem Markusevangelium in überarbeiteter
Geftalt vorliege.

Aber auch dieCompofition der beiden anderen fynoptifchen
Evangelien glaubt unfer Kritiker auf Grund eines
fo befchaffenen älteren vollftändigen Evangeliums begreiflich
machen zu können. Sie follen nämlich die
evangelifche Gefchichte der ganzen Anlage, dem Inhalt
und dem Umfang nach einfach an der Hand des Markus
fPetrinifcher Diegefe + Logia) erzählen, freilich jedes in
eigentümlicher Weife, die durch feinen Zweck und die
Bedürfnifse feines Leferkreifes bedingt wird J daneben
follen aber beide, abgefehen von der Benutzung auch
anderer Quellen namentlich durch Lukas, noch einmal
aus den ihnen auch im Original vorliegenden Logia
fchöpfen, das erfte Evangelium fo reichlich, dafs man
die Schrift des Matthäus in demfelben zu haben glaubte,
aber auch Lukas nicht fparfam, namentlich in dem ihm
eigenthümlichen Reifebericht, wenn auch vielleicht die
von ihm benutzten Logia durch die noch flüffige apoftolifche
Tradition hier und da eine Umbildung erfahren
hatten. Diefe Annahme über die Entftehung der fynoptifchen
Evangelien foll nach Weifs z. B. am Einfachften
die ohne diefelbe fo fchwer zu begreifende Entftehung
der fogenannten Doubletten, und da Lukas anerkann-
termafsen unabhängig vom erften Evangelium fchreibt,
auch die nicht durch das Markusevangelium vermittelten
Berührungen desfelben mit Matthäus wie auch andere
Schwierigkeiten im Verhältnifs der drei erften Evangelien
zu einander erklären.

Diefe Anflehten hat Weifs zuerft überfichtlich in
einer Abhandlung ,zur Elntftehungsgefchichte der drei
fynoptifchen Evangelien' (Stud. u. Krit. 1861, S. 29 ff.
S. 646 ff.) dargelegt; dann hat er in feinen Unterfuchun-
gen über ,die Redeftücke des apoftolifchen Matthäus'
(Jahrbb. f. deutfehe Theol. 1864, H. 1) und über ,die
Erzählungsftücke des apoftolifchen Matthäus' (a. a. O.
1865, H. 2) den Beftand der apoftolifchen Quelle und
ihre Benutzung fchon im Markusevangelium feftzuftellen
verflicht; in feinem Buche ,das Markusevangelium und
feine fynoptifchen Parallelen. 1872' hat er fodann an
einer eindringenden exegetifchen und kritifchen Behandlung
des zweiten Evangeliums unter der beftändigen
Controle desfelben durch die Seitenreferenten feine An-
fchauungen über die Entftehung der fynoptifchen Evangelien
erprobt, indem es ihm namentlich darauf ankam,
die originalen, aus der Petrinifchen Diegefe flammenden
und die fecundären , durch die apoftolifche Quelle vermittelten
Züge des Markus zu fondern und die Art feiner
Benutzung durch Matthäus und Lukas klarzuftellcn;
endlich hat er durch fein ,Matthäusevangelium und feine
Lucas-Parallelen. 1876' feine Unterfuchungen über die
fynoptifchen Evangelien zu einem vorläufigen Abfchlufs
geführt, indem er in diefem umfaffenden Commentar
zum erften fivangelium nun auch der apoftolifchen Quelle
und ihrer Verarbeitung bei unferem Matthäus und bei
Lukas in ausführlicher exegetifcher und kritifcher Erör-