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Ausgabe:

1877 Nr. 10

Spalte:

266-271

Autor/Hrsg.:

Lipsius, Rich. Adelb.

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1877

Rezensent:

Nitzsch, Friedrich August Berthold

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 10.

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gebrauchten .Vorlcfungen überSchleiermacher's Dialektik
und Glaubenslehre' haben, blofs dafs fie wie gefagt auch
über diefe immer noch monographifch und wenig motivirt
abgegrenzte Darftcllung hinaus nach einem Gefammtbilde
ftrebt und zu diefem Behuf Sch.'s pfychologifche Grundan-
fichten, die Hauptfätze der Dialektik, der philofophifchen
Ethik und insbefondere der Religionsphilofophie der Reihe
nach vorführt.

Entfchuldigcnd beruft fie fich dabei auf die bekannte,
fo fatal unfertige Geftalt des Sch.'fchen Nachlaffes be-
fonders in der Philofophie, was in der fecundären Darftcllung
nothwendig nachklingen muffe. Ebenfo glaubt
fie fich wegen der Treue der Reproduction trotz perfön-
licher Antipathie an die blaffe und fchablonenhafte
Terminologie des Originals anfchliefsen zu follcn. Bis
zu einem gewiffen Grad mag das immerhin der Fall fein.
Doch bin ich mit anderen Stimmen der Kritik der Anficht
, dafs der Verf. in diefem nicht unwichtigen formellen
Punkt mit der reproducirenden Treue etwas zu weit gegangen
ift und fich zu wenig Abweichung von Sch.'s
Schwerer Schulpanzerung erlaubt hat, .ähnlich wie dies
auch bei Weifsenborn's Behandlung entgegentritt oder
vielleicht noch etwas ft.ärker. Ich weifs wohl, dafs die
freiconftruetive Nachbildung philofophifcher Syfteme, in
der z. B. ein K. Fifcher glänzender Meifter ift, gleichfalls
ihre Bedenken und Gefahren hat. Aber jedenfalls
kommen fie uns dadurch menfehlich viel näher und treten
durch die Uebertragung aus der ,Sprache der Götter'
weit mehr in die lebendige Wirklichkeit und Wirkfam-
keit, als wenn man fie aus Beforgnifs trübender Alte-
rirung gar zu fehr in ihrer eigenen abflracten Höhe
beläfst. Insbefondere dürfte nur auf diefem, einer fecundären
Darfteilung durchaus erlaubten Weg der höchft
berechtigte Wunfeh des Verf. fich erfüllen, auch der aka-
demifchen Jugend Anregung und Anleitung beim Studium
des grofsen Theologen zu geben. Sonft geht es,
wie bei manchen Kantdarfteilungen, die genau fo fchwierig
find, als das dann immerhin noch zuverläffigere Original,
und fomit keine phdagogifche Hülfe bieten.

In fachlicher Hinficht möchte ich die Eingangsprä-
fumtion des Verf. von einer gegenüber den meiften Auf-
faffungen viel gröfseren Einheit und gefchloffencn Ganzheit
der Sch.'fchen Weltanfchauung nicht allzufehr
anfechten, da ja dies jedenfalls ein werthvolles heuriftifches
Princip ift. Und insbefondere läfst fich Bender dadurch
dennoch im Verlauf den Blick auch für die fchweren
Diffonanzen nicht trüben, welche gerade Sch.'s Philofophie
zeigt, wenn ich nur an den auch von B. nachdrücklich
urgirten Gegenfatz des moniftifch metaphyfifchen
und des individualiftifch ethifchen Zugs erinnere.

Im Einzelnen fcheint mir auch feine Kritik meift tref- I
fend, nur dafs fie vielleicht beffer nicht zwifcheneinge-
ftreut, fondern als compacte Schlufsantithefe auftreten
würde, eben um ein plaftifcheres Bild des Gefammtgegen-
ftandes zu gewähren, was die principielle Abficht des
Verf.'s ift. Dafs er an Sch. durchaus fondert zwifchen
bleibend Brauchbarem und entfehieden abzulöfendem
Unbrauchbaren, ift (icherlich ganz richtig. Wir können
und müffen ja Alle vor Sch. als Theologen und Philo-
fophen die gröfste Achtung haben, und dennoch drängt
es uns zu dem Geftändnifs, welches B. wiederholt thut,
dafs zuweilen unerträglich viel ,Wort- und Formelphilo-
fophie' mit unterläuft und als werthlofe, nur ermüdende
Spreu vom Weizen gefondert werden mufs. Hierin find
wir dermalen wohl faft Alle Realiften, wir mögen uns
fonft erkenntnifstheoretifch oder mctaphyfifch z. B.
gegenüber von dem naturaliltifchen Zug unterer Zeit
ftellen wie wir wollen; aber Boden unter den Füfsen
verlangen wir in irgend einer Art, und unter den Worten
wollen wir uns allezeit auch etwas denken können. Sch.'s
gröfster, vielleicht fogar Kant an bleibender Brauchbarkeit
übertreffender Werth, wie B. an verfchiedenen
Orten treffend betont, liegt hienach weit mehr in dem,

| was er wollte und erflrebte, als in dem, was und wie er
es wirklich auch fchon zu Stande brachte, welchen Ein-

, druck uns in der alten Philofophie ein Ariftoteles ganz
ähnlich macht. Am bellen und werthvollften ift deshalb
bei jenem immer die fubjectiv pfychologifche Analyfe,
fo lange fie wenigftens nicht zur Filigranarbeit wird, oder
auch die fchlagende Markirung der leitenden Intereffen,
welche bei einem Problem gleichmäfsig Befriedigung
verlangen. In diefer Hinficht möchte ich namentlich
auch feine Behandlung des Gottesbegriffs in Schutz nehmen
, welche B., ohne jedoch den exaeten Wortlaut zu
ignoriren, etwas zu einfeitig der Gravitation zum Pantheismus
zeihen möchte. Dafs Sch., übrigens wefentlich unter
Verfolg von Kant's eigenen fpeculativen Winken in gefunden
! Realismus daneben zugleich die objectiv metaphyfifchen
Pole für die fubjectiv pfychologifchen Momente
fuchte und fefthielt, ift gewifs nur richtig, z. B. gegenüber
von dem anthropologifch fubjectiven Idealismus und
marasmusartigen, dabei aber höchft pompös auftretenden
Skepticismus, welcher neueftens unter der Pfeudofirma
,Kant' droht. Dagegen find wir wieder mit B. ganz ein-
verftanden, wenn er die Art und Weife, wie Sch. dies
that, für eine weder profan-, noch religionsphilofophifch
befriedigende erklärt.

Kiel. E. Pfleiderer.

Lipsius, Kirchenrath Prof. Dr. Rieh. Adelb., Lehrbuch
der evangelisch - protestantischen Dogmatik. Braun-
fchweig 1876, Schwetfchke& Sohn. (VIII, 873 S. gr. 8.)
M. 12. 80.

Die wiffenfehaftliche Solidität, welche diefes be-
fcheidentlich als ,Lehrbuch' bezeichnete, in Wahrheit
ein neues felbftändiges Syftem darftellende Werk auszeichnet
, giebt fich fchon darin zu erkennen, dafs der
Verfaffer einmal die Grenzen unferes Wiffenkönnens
überhaupt genau abdeckt, dafs er fodann die Natur
des religiöfen Erkennens fowie die Tragweite und
Methode des dogmatifchen Erkennens forgfältig
feftftellt, dafs er endlich gerade durch das Abfchneiden
aller hochfliegenden Prätentionen die dogmatifche Theologie
in wahrhaft kritifcher Weife in die allgemeine
Wiffenfchaft eingliedert. Um dergleichen Dinge
machen fich allerdings Theologen, die gewohnt find, von
der Zinne des Tempels, auf welche fie ihr äufserlicher
Supernaturalismus geführt hat, verächtlich auf die Mühen
des Kriticismus herabzublicken, nicht viel Sorge; und
es ift fogar möglich, dafs die Gründlichkeit, mit der fie
hier behandelt werden, manchen von dem Studium des
Werkes abfehreckt. An fich aber ift diefe hervorgegangen
aus der tiefernften Erwägung der Thatfache,
dafs es unmöglich ift, der Theologie die verlorene und
doch mit Recht beanfpruchte Anerkennung der Männer
der ftrengen Wiffenfchaft wieder zu erobern, wenn man
diefe Principienfragen bei Seite liegen läfst.

Schlechthin hat es nun freilich auch feither fchon
an dogmatifchen Werken, welche in der zu Grunde gelegten
Erkcnntnifstheorie einmal wieder Fühlung mit
der modernen Gefammtwiffenfchaft fliehten, nicht gefehlt,
obwohl die grofse Menge fich eigentlich wieder in dem
antediluvianifchen Fahrwaffcr eines Wolff'fchen Dogmatismus
bewegt. Namentlich ift hier der fcharffinnige
Fortbildner der fpeculativen Richtung, A. E. Biedermann
, zu nennen. Allein gerade von diefem unter-
fcheidet fich Lipfius durch feine Wiffenfchaftslehrc und
deren dogmatifche Confequenzen. Zwar betrachtet auch
letzterer die Form, in welcher der reliinöfe Glaube auch
j auf feiner höchften Stufe, der des Chriftcnthums, feinen
Inhalt zum Ausdruck bringe, bei aller fubftantiellen
j religiöfen Gediegenheit als die der begriffsmäfsig inadä-
I quaten V orftel lung, jede religiöfe Vorftellung aber
; als ein wenn auch durch Abftraction mehr oder minder