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Ausgabe:

1877 Nr. 9

Spalte:

234-239

Autor/Hrsg.:

Göring, Carl

Titel/Untertitel:

Ueber die menschliche Freiheit und Zurechnungsfähigkeit 1877

Rezensent:

Herrmann, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 9.

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der grofse Hauptbeweis für Gottes Dafein. Den vorausgefetzt
treten nun auch der kosmologifche, der teleo-
logifche, der moralifche Beweis in Kraft. Oder wenig-
ftens fcheint es bisweilen, als ruhten fie alle durchaus
auf jener Vorausfetzung; bisweilen wird den beiden
letzteren auch fchon für fich Gültigkeit zugefprochen. —
Darin liegt nun gewifs etwas richtiges, dafs diefe fogen.
Beweife für das Dafein Gottes Bedeutung gewinnen, fo
bald einer anderswie vom Dafein Gottes überzeugt ift.
Um fo mehr kommt darauf an, wie denn diefe letzte
Ueberzeugung zu Stande kommt. Und da appellirt der
Verf. nicht an das religiöfe Gemüth fondern an die
.Vernunft', die er als das höchfte intellectuelle Vermögen
des menfehlichen Geiftes auch über dem Verftand anfleht
. Man erfährt nicht, ob man dabei an den ontolo-
gifchen Beweis oder doch etwa an Thatfachen des
praklifchen Geifteslcbens zu denken hat. Und das ift
für den ganzen Standpunkt charakteriftifch. Dem ent-
fpricht auch die Vertheidigung der Schrift und der
chriftlichen Wahrheit, welche auf der Bafis des fo als
vernünftig erwiefenen Gottesglaubens unternommen wird.
Die ganze Auseinanderfetzung erinnert an die orthodoxe
Lehre von den /.oirijuia externa und interna, welche die
fides humana erzeugen. Auch fehlt nicht die fchliefsliche
Berufung auf die chriftliche Heilserfahrung. Das Schrift -
prineip wird in der gewöhnlichen ftrengen Weife der
englifchen Frömmigkeit aufgefafst, aber es wird nicht
in einen Gegenfatz geftellt, in dem es verwerflich wird.

Noch bedarf es einer Bemerkung über jenen Ver-
fuch, den Glauben als die Grundlage alles Wiffens zu
erweifen. Derartiges begegnet ja häufiger auch in der
deutfehen Theologie. Es ift aber mehr eine geiftreiche
Bemerkung als ein wiffenfehaftlich brauchbarer Grund-
fatz. Es dient mehr zur Verwirrung als zur Klärung.
Thatfächlich verhält es fich doch fo, dafs es verfchieden-
artige und verfchieden zu Stande gekommene Ueber-
zeugungen find, die wir je als Glaube und Wiffen bezeichnen
. Und nur eine gründliche Unterfuchung diefes
Unterfchicdes ift darum der richtige Ausgangspunkt für
eine haltbare Vereinigung.

Das 5. Capitel redet von den Zugeftändnifscn des
Skepticismus. Der Verf. hat überhaupt eine Vorliebe
dafür, einzelnes aus den von ihm bekämpften Anfchau-
ungen herauszugreifen und daraus mit Hülfe der Logik
Capital zu fchlagen. Dabei ift er nicht immer glücklich.
So findet fich fchon im 3. Cap. folgende Argumentation.
Auch die, welche Gott leugnen, geben doch zu, dafs
wir von anderen Geiftern (den Menfchen) aufser uns felbft
wiffen. Können wir aber von ihnen wiffen, fo mufs es
auch einen ficheren Weg zum Wiffen um den geiftigen
Gott geben. Derartiges, mehr oder minder gefchickt
behandelt, findet fich in diefem 5. Cap. zufammengeftellt.
Damit wird aber nichts bewiefen. Namentlich nicht,
wenn, wie hier gefchicht, der Satz des einen häufig erft
durch einen Satz des anderen erläutert wird, und die
Argumentation dann von diefer Erläuterung ausgeht.
Auch fehlt hier wie durchgehends eine klare Unterfchei-
dung zwifchen dem doppelten Standpunkt, der bekämpft
wird, dem Materialismus und Skepticismus. Ueberdies
begegnen hier Wiederholungen aus den früheren Capp.

Im 6. Cap., welches die Ueberfchrift modern thonght
fuhrt, fetzt der Verf. feine wiffenfehaftliche Grundan-
fchauung auseinander. Wir unterfcheiden uns in unferem
Denken unmittelbar von den gedachten Gegenftänden.
Diefcn Inhalt des Denkens empfangen wir aber auf dem
dreifachen Weg der Sinne, des Verftandes und der Vernunft
, welche letztere dann auch der Offenbarung Zeug-
nifs giebt. Wird die Wiffenfchaft fo betrieben, dann
wird fie auch künftig die Religion befördern und von
ihr befördert werden, wie das denn von jeher das Ver-
hältnifs der echten Wiffenfchaft zum Chriftenthum ge-
wefen ift. Nur die Pfeudowiffenfchaft des ,modernen
Denkens' hält es anders. Intereffant ift in der nun wieder |

! folgenden Polemik der Eifer, mit welchem der Verf.
für die echte Induction auf Grund des Caufalitätsgefetzes
gegen die bastard induction eines Mill eintritt. Mit dem
Caufalitätsgefetz fteht und fällt eben der Zufammenhang,
der in dem Begriff der ,erften Urfache' zwifchen dem
Glauben an Gott und der gewöhnlichen Erfahrung gegeben
ift. Daher hat die alte Orthodoxie von jeher für die
Caufalität grofse Vorliebe gehabt. Und auch bei dem
Anftofs, den Kant's Denken von Hume's Skepticismus
erhielt, dürfte ähnliches mitgewirkt haben. Die Richtigkeit
deffen zu unterfuchen würde hier aber zu weit führen.
— Den Befchlufs bildet ein Hinweis auf die Geftalt,
welche die Religion unter den Händen diefer modernen
fortgefchrittenen Denker (t/ie most advanced of the ntore
advanced thinkers) gewinnt. Comte's Religion der Humanität
ohne Gott, welche Mill theilweife billigt, wird
als abfehreckendes Bcifpiel hingeftellt. Und folche hirn-
lofe Phantafien zeigen allerdings, dafs diefe Art modernen
Denkens wie Comte's Pofitivismus beffer daran thut, fich
mit der Religion überhaupt nicht zu befaffen.

Bafel. J. Kaftan.

Gbring, Privatdoc. Dr. Carl, Ueber die menschliche Freiheit
und Zurechnungsfähigkeit. Eine kritifche Unterfuchung.
Leipzig 1876, Veit & Co. (IV, 136 S. gr. 8.) M. 2.60.

Aufser einer fehr inftruetiven Ueberficht über die
Arbeit, welche in alter und neuer Zeit dem Problem der
Freiheit gewidmet ift, enthält diefe Schrift einen inter-
effanten Verfuch, mit den Mitteln des Mill'fchen Empirismus
der Frage beizukommen. Der Gang der Unterfuchung
ift folgender.

Die wiffenfehaftliche Behandlung des Freiheitsbegriffes
pflegt deshalb fo erfolglos zu fein, weil man feit Auguftin
den Unterfchied in der Regel nicht beachtet, der zwifchen
der Freiheit und der pofitiven Fähigkeit zu ftatuiren ift.
Der allgemeine Begriff von Freiheit hat zweifellos einen
durchaus negativen Sinn; er bezeichnet die Abwefenheit
von Zwang. Auf den Willen angewendet giebt diefer
allgemeine Begriff noch nicht die Wahlfähigkeit felbft an,
fondern erft eine negative Bedingung derfelben. Deshalb
hat man auch mit der blofsen Wahlfreiheit noch kein
Object der Zurechnung; es mufs die Wahlfähigkeit
dazukommen, um eine zurechnungsfähige Handlung möglich
zu machen. Da aber der Spielraum diefer pofitiven
Fähigkeit erft durch die negative Freiheit der Wahl eröffnet
wird, fo erhebt fich gegen die Anwendbarkeit des
Begriffes der Zurechnung ein gewichtiges Bedenken von
der Vorftellung aus, dafs Nothwendigkeit in irgend einer
Form Alles beherrfcht.

Ueber die roheren Formen diefer Vorftellung geht .
der Verfaffer fchnell hinweg. Er findet fie nicht nur in
dem Glauben an das Fatum, fondern auch in dem chriftlichen
Gedanken der Vorfehung Gottes. Vorfehung und
Fatum follen darin einander gleich fein, dafs fie beide
durch eine als objective Macht vorgeftellte Nothwendigkeit
alle Freiheit ausfchliefsen, dafs aber ihre grundfätz-
liehe Annahme niemals dazu ausreicht, jene Confequenz
auch in folchen Fällen zu verwirklichen, wo das prakti-
fche Intereffe des Gläubigen das Gegentheil verlangt. —
Ich erwidere darauf nur, dafs der Streit des Verf.'s gegen
eingewurzelte Vorurtheile keinen würdigeren Gegcnftand
finden kann als die unkritifche Meinung, welche in jener
Zufammenfaffung laut wird. Der chriftliche Gedanke der
Vorfehung hat mit der Hypothefe einer objectiven Nothwendigkeit
alles Gefchehens gar nichts zu fchaffen.
Wenn trotzdem in der Gefchichte der Theologie beide
fo oft verbunden erfcheinen, fo hat das nicht feinen
Grund in der Sache felbft, fondern in dem Unvermögen
der betreffenden Theologen, die durch die Religion
factifch aufgegebenen Probleme richtig zu formuliren.
— Eine gründlichere Analyfe als diefe Vorftellungen
erfahren diejenigen Formen der Nothwendigkeit, ,unter