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Ausgabe:

1877 Nr. 8

Spalte:

208-211

Autor/Hrsg.:

Wetzel, Paul

Titel/Untertitel:

Kleinere Schriften ethischen Inhalts 1877

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Theologifche Literaturzeitung. 1877. Nr. 8.

208

Wenn anders es diefer theologifchen Richtung wefent- I
lieh ift, inOppofition gegen den Formalismus der,Kirchenlehre
' den Unterfchied zwifchen der abgeleiteten fyftema-
tifchen theologifchen Wiffenfchaft und der biblifchen
Dogmatik zu Gunften der letzteren aufzuheben, fo werden
wir uns von vornherein fagen können, dafs wir von ihr
kein dogmatifches Syftem in dem gewöhnlichen Sinne
des Worts erwarten dürfen. Das Laichinger'fche ift denn
auch, analog den bekannteren Arbeiten von Reiff u. A.,
im Grunde nichts anderes als eine lutherifch gefärbte —
denn von einer confeffionellen Färbung kann nun einmal
auch der Biblicift nicht Abftand nehmen — biblifche
Dogmatik. Dafs darin auf die dogmengefchichtliche
Entwicklung fchlechthin gar keine Rückficht genommen
wird, ift nur einfach confequent. Eine biblifche Dogmatik
kann eben nichts anderes fein, als die Darfteilung und
Entwicklung der biblifchen Grundanfchauungen — nach
der Auffaffung ihres Verfaffers. Darum ift auch die gelegentliche
Kritik der ,Kirchenlehre' bei L. eine rein fub-
jective, wir möchten fagen atomiftifche; der Mangel eines
objectiven wiffenfehaftlichen Wahrheitskriteriums macht
fich überall fühlbar. — Diefer fubjectiviltifche Grund- .
Charakter verleiht dem Ganzen ein etwas orakelhaftes
Gepräge; faft ohne jede Bezugnahme auf anderer Sterblichen
Anficht, ja überhaupt falt ohne jedes Citat fpricht
der Verf. auf den fämmtlichen 750 Seiten feines Syftems
mit grofser Sicherheit und abfchliefsender Beftimmtheit
nur feine eigenen Meinungen und Anflehten aus. Wir
geftehen, dafs nicht blofs eine principielle Uebercin-
(timmung, fondern auch eine Art perfönlicher Congenia-
lität mit dem Herrn Verf. dazu gehört, um fich auf die
Dauer davon feffeln zu laffen; der Durchfchnittsfyftema-
tiker wird ermüden.

Doch das alles find Eigenthümlichkeiten, die nach
den löblichen Grundfätzen diefer Zeitung nur charakteri-
firt, nicht kritifirt werden follen. Anders fteht es mit
den Forderungen, die wir an ein ,Syftem' überhaupt,
gleichgiltig in welcher Sphäre fich dasfelbe bewegt, zu
machen haben. Wir fordern von jedem wiffenfehaftlichen
Syftem— freilich giebt es viele Pfeudofyfteme auch in der
aufsertheologifchen Wiffenfchaft — zunächft, dafs fich
alle feine Theile wirklich und fachlich aus einem Mittelpunkte
entwickeln, und von dem theologifchen insbesondere
, dafs es von vornherein eingefteht, dafs diefer
Mittelpunkt in der Theologie ein hiftorifcher, erfahrungs-
mäfsig gegebener ift.

Wir können nicht fagen, dafs L. diefe Forderungen
erfülle. Trotz feines Biblicismus fucht er fein Grund- I
prineip, den Begriff des höchften Gutes, aus dem ,allgemeinen
Begriff der Religion' abzuleiten (p. 11). Dafs
ihm das gelingt, ift nur ein Beweis dafür, dafs dies
Prineip als Grundlage eines ,chriftlichen' Syftems falfch [
ift. Es ift eben nur die allgemeine Form für ein dog-
matifch-ethifches Syftem überhaupt und liefse fich von
einem indifchen oder chinefifchen Theologen mit dem-
felben Recht anwenden. Es kommt nur darauf an, was
man unter dem ,höchften Gut' verfteht. Den Inhalt für
diefe Form mufs die Gefchichte und die Erfahrung hergeben
. So fchiebt denn auch der Verf. ohne Weiteres
den ganzen Inhalt der chriftlichen Heilswahrheit feinem !
Grundprincip unter, ohne fich der Inconfequenz, die
er damit begeht, bewufst zu werden. Man könnte paradox
fagen, dafs diefe Inconfequenz das Richtigfte in
diefem fyftematifchen Verfahren ift. Dafs fich aus dem
,Begriff des höchften Gutes' an fich die Lehre von der ;
Sünde und folgerichtig auch die von der Erlöfung nicht
ableiten läfst, ift klar.

Auf eine genauere Wiedergabe des Inhalts des vorliegenden
Syftems können wir um fo eher Verzicht leiften,
als dasfelbe im Wefentlichen nur eine bibliciftifche Darfteilung
der lutherifchen Dogmatik ift. Die Eintheilung
gefchieht nach dem Schema der drei .Wefensbeftimmt- I
heiten' Gottes als des höchften Gutes: Heiligkeit

(Lehre von Gott, von der Schöpfung und vom Sündenfall),
Liebe (Erlöfung, Rechtfertigung und Heiligung) und
Macht (Efchatologie). Die einzelnen Abweichungen vom
lutherifchen — übrigens vom Verf. fehr mifsverltänd-
licher Weife einfach evangelifch genannten '622, 623,
674 u. a.) — Lehrtropus find zu unwefentlich, um be-
fonders hervorgehoben zu werden. Eine Besprechung
exegetifcher Eigenthümlichkeiten aber ift ohne eine gründliche
Auseinanderfetzung unmöglich. Im Uebrigen ift die
Exegefe trotz ihres Subjectivismus mit wenigen Ausnahmen
durchaus nüchtern und mafsvoll, ein Zeichen von
dem mafsvollen Charakter und der gründlichen und gediegenen
Bibelforfchung des Herrn Verf. Einzelne Ausnahmen
von diefer Regel, wie die auf Mth. 25, 34 bahrte
Anficht von der relativen Gerechtigkeit des natürlichen
Menfchen und die damit zufammenhängende von der
,Aequivalenz' von Glauben und Werken (p. 476, 734),
ferner die dictatorifche Exegefe der bekannten Philipper-
ftelle (256) und der biblifchen Efchatologie, der gefährlich-
ften Klippe für den Subjectivismus, — alles dies tritt
jenem Grundcharakter gegenüber völlig in den Hintergrund
.

Ueberhaupt, in den Einzelheiten des Werkes offenbart
der Biblicismus, deffen theoretifche Schwächen wir oben
betonten, feine grofsen Vorzüge. Die Einzelausführungen
biblifcher Gedanken find oft recht tief und treffend zugleich
, befonders wo es fich um mehr praktische Dinge
handelt. So in der Lehre von der Sünde (179 ff.), von
der Heilsaneignung (425 ff ), von der Infpiration (367 f.),
Askefe (512 ff.) Kindertaufe (650 ff) u. a. m. L1 eberall
tritt eine warme, perfönliche Hingebung an das Bibclwort
hervor, die gewifs mehr als jeder theoretifche Aufbau
in das rechte Verftändnifs der Heilswahrheit hineinführt.
Jedem, der in diefer Beziehung gefördert fein will,
können wir das Buch nur angelegentlich empfehlen.
Auch die gelegentlichen Seitenblicke auf praktifche Fragen
der Gegenwart (Trauung, Bekenntnifs u. a.) find durch
das Hervorkehren der rein biblifchen Principien wohl
am Platze. Ueberhaupt ift das Verharren auf biblifchem
Grund und Boden der aufserbiblifchen Speculation gegenüber
ein nicht zu unterfchätzender Vorzug des Werkes.

Die Vorzüge desfelben liegen wie bei der alten
Detailmalerei in dem Fleifs, in den Farben und in den
Einzelheiten, nicht in der Idee und Conception des
Ganzen; die Ausführung ift tadellos, man ftaunt und freut
fich über die Gründlichkeit und Gediegenheit derfelben,
und doch — ifl's kein Bild.

Saufedlitz bei Bitterfeld. Th. Weber.

Kleinere Schriften ethischen Inhalts.

Die Bereicherung und Vertiefung, welche die theologifche
Ethik feit den bahnbrechenden Leiftungen
Schleiermacher's und Rothe's erfahren hat, ift bisher bei
der grofsen Menge auch der wiffenfehaftlich Gebildeten
ziemlich unbeachtet geblieben. Da man diefelbc meift
nur etwa als eine biblifche Pflichtenlehre kennt, fo find
die ethifchen Grundbegriffe, die fie als Lehre von den
fittlichen Gütern zu entwickeln hat, dem allgemeinen
Bewufstfein mehr oder weniger fremd geblieben. Sie
demfelben vermitteln zu helfen durch eine verftändlichere
Darfteilung, möchte diefelbe auch der ftreng wiffenfehaftlichen
Haltung entbehren, und dadurch die fittliche
Urtheilsfähigkeit zu heben, ift ein verdienftliches Bemühen
und in fo fern nicht ausfichtslos, als für den ethifchen
Gehalt des Chriftenthums in der Gegenwart noch am
cheften Verftändnifs in weiteren Kreifen zu erwarten ift.
Wir befprechen im Nachfolgenden eine Reihe von
Schriften, welche darauf ihr Abfehen gerichtet haben.

Eine ernfte und fleifsige Arbeit ift das Schriftchen:
Vom Zweck des Dafeins. Ethifche Betrachtungen
von Fr. J. Winter, Pfarrer (Gütersloh 1876, Bertelsmann
. 103 S. 8. M. 1. 20). Der Vcrfaffer Hellt darin