Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1876 Nr. 4

Spalte:

119-121

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Ernst Glob.

Titel/Untertitel:

Bider aus dem Leben Jesu. Biblische Vorträge 1876

Rezensent:

Lindenberg, H.

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

ii9

Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 4.

120

wird. Die Gewifsheit, dafs eine Perfon jenes Inhaltes I
Zweck der Weltfchöpfung und Herr der Welt ift, haben I
wir nur, wenn wir den Erfolg ihrer Wirkfamkeit in der
religiöfen Deutung ihrer Zweckbeziehung auf uns erleben.
Jener Inhalt feiner Perfon, unfere ethifche Würdigung
desfelben und unfere religiöfe Deutung diefes Vorganges
und feiner Vermittelungen bilden die uns erkennbaren
Wurzeln, aus welchen uns der Glaube an Chrifti Gottheit
e»wächft. Nicht in dem Sinne, dafs man in diefem
Glauben nur den accidentellen Erfolg jenes Wefentlichen
befäfse, fondern in dem Sinne, dafs wir uns erft mit
diefer religiöfen Würdigung Chrifti in den praktifchen
Befitz der Weltanfchauung fetzen, in der wir der Verhöhnung
mit Gott und des ewigen Lebens gewifs find.

Mit Rückficht auf den Raum mufs ich unterlaffen,
den Nachweis wiederzugeben, dafs auch die Thätigkeit
Chrifti, in welcher er nicht als der Offenbarer Gottes
uns, fondern als unfer Vertreter Gott zugewandt ift, alfo
feine priefterliche Function mit feiner fo gefafsten Gottheit
in Einklang fteht. Der Verf. beanfprucht, gerade
hiermit den Grund des Rationalismus in dem alten Dogma,
welches Miefe Einheit nie erreichte, entfernt zu haben.
Aber darauf möchte ich noch hinweifen, dafs nach diefer
Arbeit es nicht leicht fein dürfte, die Gottheit Chrifti
fernerhin wie etwas rein Sachliches zu behandeln, das
als Inftrument verwendet werden kann zu Zwecken, mit
denen es in keinem offenbaren inneren Zufammenhange
fteht.

Halle a/S. W. Herr mann.

Lehmann, Dir. Past. Ernst Glob., Bilder aus dem Leben

Jesu. Biblifche Vorträge. Leipzig 1875, Hinrichs' Verl.
(IV, 151 S. br. 8.) M. 2. 50; geb. M. 3. 25.

,Erbauliche Vorträge' nennt der Vrf. felbft diefe
Bilder aus dem Leben Jefu, in welchen heben einzelne
Gefchichten des neuen Teftaments behandelt werden
(Maria und Martha, der reiche Jüngling, Jefus im Sturm,
die Heilung des Blinden, Erweckung des Lazarus, Geth-
femane und Golgatha). Man könnte he auch Predigten,
vom Katheder aus gehalten, nennen. Denn die meiften
würden mit Hinzufügung der üblichen Anrede und eines
Amen am Schlufs ebenfogut in jeder Predigtfammlung
flehen können. Nicht blos, dafs ein biblifcher Text vor-
angeftellt und Vers für Vers erklärt und angewandt wird, 1
dafs die Einleitung meift an die Zeit des Kirchenjahres
anknüpft (Nr. 1 an den 2. Bufstag, Nr. 2 an den 1. Advent,
Nr. 3 an Epiphanias, Nr. 6. an die Paffionszeit) — auch |
die Form ift im Wefentlichen die in der Predigt gebräuchliche
. Bei mehreren liefse fich leicht eine Dispohtion
herausziehen und an die Spitze ftellen; beim erften Vortrag
hat he der Vrf. felbft am Schluffe gegeben: ,des
Haufes Weh, des Haufes Gefahr, des Haufes Segen'.
Oft begegnet uns wie in der Predigt die perfönliche Anrede
. ,Es hat der Herr feine Boten, die er vorausfchickt,
um auf fein Kommen vorzubereiten und ihm die Wege
zu bahnen. Haft Du ihre Sprache auch verftanden, wenn
fie zu Dir kamen?' (S. 5.) ,Ihr jungen Herzen, Jünglinge 1
und Jungfrauen,'die ihr frühzeitig fchon in die Irrgänge
des Lebens verftrickt und in die Sorge und die Luft der
Welt fchon eingeweiht, den füllen Frieden des Herzens
vermifst und wehmüthig der glücklichen Kinderzeit gedenken
müfst, wo eine Mutter euch unter des Heilands
fegnende Hände führte, wo ihr ein Glück befafst, das
kein Genufs der Welt erfetzen kann — tretet frei heran
zu Chrifto eurem Herrn' (S. 22). So bewegen fich nirgends
die Vorträge in blofser Auseinanderfetzung und '
Erörterung, fondern fuchen überall perfönlich anzufaffen.
Damit foll nichts weniger-als ein Vorwurf ausgebrochen
fein. Es ift eine neue Art, alte Wahrheit zu verkündigen, I
die wir in einer Zeit, wo die bisherigen kirchlichen Formen
nicht mehr überall die gewünfchte Wirkung üben,

nur willkommen heifsen können, doppelt willkommen,
wenn die alte Wahrheit, wie es hier gefchieht, in fo anziehender
und zugleich wirkfamer Weife dem heutigen
Gefchlecht ans Herz gelegt wird. Deutlichkeit der An-
fchauung, leichte, ungefuchte Anwendung, eine edle, bald
zu fentenziöfer Kürze fich verdichtende, bald zu poeti-
fchem Schwung fich erhebende Sprache (es laufen vielfach
unbewufst fünffüfsige Jamben ein), vor Allem aber
ein auf reicher Lebenserfahrung beruhendes pfycholo-
gifches Verftändnifs — das find auf den erften Blick in
die Augen fallende Vorzüge diefer Vorträge. Dafs, um
die Gefchichten anfehaulich zu geftalten, hie und da der
eignen Phantafie ein etwas weiter Spielraum gelaffen wird
(wie z. B. bei Ausmalung des früheren Lebens der Martha
und Maria, ihrer Trauer um den Tod zuerft des Vaters,
dann der Mutter, oder bei Schilderung des blinden Bar-
timäus) wird man dem Vrf. um fo eher nachfehen, als
gerade fein Gefchick, die kleinften, fcheinbar nebenfächlichen
Züge zu einem lebensvollen Gefammtbild zu verweben
, den Lefer fortwährend zu feffeln weifs. Von
der Leichtigkeit der Uebergänge und Anwendungen nur
ein paar Beifpiele ftatt vieler. Am Anfang des 2. Vortrages
hat der Vrf. den Text vom reichen Jüngling vor-
gelefen. Er beginnt, an die Adventszeit anknüpfend mit
der Sacharjaftelle: ,Siehe dein König kommt zu dir, arm',
und zeichnet in kurzen kräftigen Zügen den wunderbar
geheimnifsvollen Gegenfatz in der Perfon des Gottes-
und Menfchenfohnes. ,Arm und doch reich über Alles,
fchwach und doch ein ftarker Held, fo hält er in der
Zeit der Gnade in aller Stille feine Königszüge in der
Welt und fucht und wirbt um Menfchenfeelen für fein
Reich. —■ Beim Werben finden wir ihn auch in unferm
Text'. Oder ein andres aus dem 7. Vortrag ,Golgatha'.
Im Anfchlufs an das Wort des Herrn: , Weinet nicht
über mich, fondern weinet über euch u. f. w.' fährt der
Vrf. fort: ,Die Thränen der Weiber können ihn nicht
tröffen. Auch von uns begehrt der Herr nicht Thränen
des Mitleids, fondern Thränen der Bufse. Trauergefühle
beim Anblick der Leiden Jefu empfinden, ift noch nicht
Andacht, und Mitgefühl mit dem gequälten Menfchenfohn
ift noch nicht Glaube. Es giebt weiche Herzen, die beim
Lefen der Leidensgefchichte in Thränen zerfliefsen, ohne
doch von dem Stachel der Bufse etwas zu fühlen, die in
Jefu Tod der eignen Sünde Sold erkennt. Diefe Sentimentalität
ift gar oft ein Zeichen von dem Mangel an
Sündenbewufstfcin'. Es würde nicht fchwer fein, aus
den Vorträgen eine grofse Reihe kurzer treffender Sentenzen
und Aphorismen auszuziehen. ,Nicht auf Bravour-
ftücke kommt es an im Chriftenthum' (S." 24). ,Es ift
für Manchen fchon der eigne Wille die Ruthe geworden,
mit der ihn Gott zur Demuth und zum Entfagen brachte'
(S. 34). ,In dem Vorneangehen liegt eine grofse Ver-
fuchung und Gefahr' (S. 67 im Anfchlufs an die Worte:
,Die aber vorne angingen, bedrohten ihn'). ,Mit dem zunehmenden
Glauben wachfen auch die Anfechtungen an
Tiefe und Schwere. Wer hohe Berge fteigt, der kommt
an manchem tiefen Abgrund auch vorüber' (S. 91).
Die angeführten, willkürlich herausgegriffenen Stellen
mögen zur allgemeinen Charaktcriffik genügen. Dafs in
einem an mannigfaltigen Gedanken fo reichhaltigen Buch
auch disputable fich finden, liegt auf der Hand. Die
Erklärung des Vrf., weshalb der Herr die Anrede:
,Guter Meifter' von fich ablehnt, können wir uns nicht
aneignen. ,Ncnnff Du mich gut im rechten Sinn, fo mutst
Du auch den Gott in mir erkennen. Dir aber bin ich
nur der Rabbi; fo hat der Name ,guter Meifter' in deinem
Munde keine Wahrheit' (S. 24). Abgcfehen davon, dafs
Jefus feinen Jüngern die Anrede Rabbi niemals verweift,
würde er, wenn er das hätte fagen wollen — es eben
gefagt haben. Er weift vielmehr den vollen Begriff
dya&6g von fich ab, weil er, fo lange er noch der Zeitlichkeit
angehörte, fich auch noch unter dem Gegenfatz
von Ideal und Wirklichkeit flehend wufste, weil das