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Ausgabe:

1876 Nr. 4

Spalte:

116-119

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die christologischen Arbeiten der neuesten Zeit. Erster Artikel 1876

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H5

Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 4.

116

Gottes'. S. 131 berichteter ganz recht, dafs die Reformation
keine Ethik hervorgebracht habe, ohne diefem
für die Gefchichte der proteftantifchen Theologie höchft
wichtigen Umftande auch nur irgendwie nachzuforfchen.
Die Reclame, welche das Buch in die Welt begleitet hat,
dafs Kirchen- und Dogmengefchichte hier verbunden
vorgetragen würden, enthält gar keinen Vorzug; denn
wozu hat man denn beide Disciplinen getrennt? Doch
nur um die Dogmengefchichte nach den ihr eigenthüm-
lichen Epochen gründlich verfolgen zu können. Die
ganze Unhaltbarkeit der Localmethode hat fchon A.
Ritfehl in feinem mafsgebenden Auffatz über Methode
der älteren Dogmengefchichte (Jahrb. f. deutfehe "Iheol.
1871. Bd. 16. H. 2.) dargethan, worauf wir den Verf. verweilen
. Freilich ohne die dogmengefchichtlichen Referate
würde fich der Leitfaden nicht über die Höhe der Miniaturausgabe
von Kurtz' unbrauchbarer Kirchengefchichte
erhoben haben. — Aus den zahlreichen Beifpielen von
Oberflächlichkeit heben wir noch einige hervor: nach j
S. 14 und 15 müfste man annehmen, dafs der Hirt des
Hermas und der erfte Brief des Clemens Romanus an
die Corinther in der ganzen Chriftenheit vorgelefen
worden feien. S. 17 lautet die Charakteriftik Cyprian's
nur fo: ,er war kein Idealift, aber ein Mann der Organi-
fation der Kirche'. S. 98 fehlt beim Conftanzer Concil
gerade die Hauptfache, die Aufteilung der episkopa-
liftifchen Decrete. S. 125 lefen wir die einzigartige Bemerkung
,der Fund einer Bibel in der Univerfitätsbiblio-
thek und der Tod feines Freundes Alexius bewogen
Luther) 1505 in's Auguftinerklofter in Erfurt zu gehen'.
S. 53 hat der Verf. für die Gefchichte der Sacramente in
der dogmenbildenden Periode nur die Worte : ,Sacra-
ment wurde fowohl von der Religionslehre als von Religionsgebräuchen
gebraucht. Im eminenten Sinn wurde
aber damit die Taufe und das Abendmahl bezeichnet.
Man kennt nur zwei Sacramente, Taufe und Abendmahl,
obwohl Dionyfius Areopagita bereits fechs Sacramente
zählt'. — S. 176 über die Chriftologie bei den Myftikern
zur Zeit der Blüthe der nachreformatorifchen Myftik:
,die Quäker und Myftiker legten mehr Gewicht auf den
Chriftus in uns, als auf den hiftorifchen Chriftus, wenngleich
fie den letztern nicht leugnen'. Mit folchem Gerede
ift doch wahrlich gar nichts gelehrt. Von dem
dogmengefchichtlichen Procefs in der Zeit vor der Reformation
berichtet der Verf. fo gut wie nichts. In der
neueren Kirchengefchichte findet fich hier zwar mancherlei
mit finnigem Verftändnifs zufammengetragen, was in
anderen Compendien fehlt; trotzdem erweift fich der Verf.
als entfetzlich unbewandert. Als Vertreter der Schleier-
macherfchen Rechten in der reformirten Kirche kennt
er die bunte Reihe: Schweizer, Schneckenburger, Hundeshagen
, Pet. Lange, Hagenbach, Schenkel, Heppe, Ebrard
(S. 228). Wiffenfchaftliehe Organe diefer find,
neben den Studien und Kritiken, (jetzt noch!) die deutfehe
Zeitfchrift für chriftliche Wiffenfchaft und chriftliches
Leben von Th. Schneider, die Jahrb. f. deutfehe Theol.
und die Neue Ev. Kirc hen zeitu n g (S. 228)! — Zur
Tübinger Schule gehören nach dem Urtheil des Verf.
(S. 227) aufser Zeller in Eern {sie.'), auch Ritfehl in Bonn
{sie!!), von welchem er nur die ,Entftehung der alt-
katholifchen Kirche' von 1850 kennt. —- In der Auswahl
der Literatur verfährt er völlig principlos: oft fehlen
gerade die für Studirende wichtigften Werke; fo in der
Gefchichte der altchriftlichen Kirche Ritfchl's Ent-
ftehung der altkatholifchen Kirche. 2. Aufl. 1857; F.
Nitzfeh, Grundrifs der chriftlichen Dogmengefchichte
1870; Thomafius, die chriftliche Dogmengefchichte 1874.
— Bei den ,apoftolifchen Vätern' (S. 15) citirt der Verf.
Cotelerius ; dagegen vermifst man die Handausgaben von
Hefele und Dreffel (die neuefte Ausgabe von Harnack-
Gebhardt-Zahn konnte er noch nicht kennen). In der
Reformationsgefchichte fehlt J. Köftlin, Luther's Leben,
Henke's neuere Kirchengefchichte hrsg. von Gass, felbft

j die fchon vor 16 Jahren erfchienencMonographic Schmidt's
I über Melanchthon. — Statt Hefele's Conciliengefchichte
[ (— 1873) citirt der Verf. (S. 98) Weffenberg, die grofsen
Kirchenverfammlungen 1840. Und was in aller Welt foll
in einem Compendium ein fo unbrauchbares Buch wie
Görres, chriftliche Myftik (S. 87)? Andere werden angeführt
, ohne dafs fie der Verf. in der Hand gehabt hat,
z. B. (S. 76) Reuter, Alexander III und die Kaifer-
zeit 1845 • - ein thörichter Titel; dafs diefes Werk
,Alexander III und die Kirche feiner Zeit' im Jahre
1860—64 in 2. Aufl. (3 Bde.) erfchien, weifs H. wieder
nicht. — Unentfchuldbare Nachläffigkeit fehlt obendrein
auch nicht, z. B. S. 134, Otto Fock, Gefchichte des
Socialismus, ftatt Socinia nismus; S. 15 (pilf^a ftatt
rnolr/ua u. f. w. Wir könnten noch eine ganze Reihe
von Mängeln anzeigen; wollen aber mit dem Urtheil
fchliefsen, dafs ein hoher Grad mindeftens von Selbfttäu-
fchung dazu gehört, ein fo unreifes Product als ,Wegwei-
fer' anzubieten.

Breslau. Paul Tfchackert.

Die christologischen Arbeiten der neuesten Zeit.

Erfter Artikel.

Zu einem Bericht über die neuesten Arbeiten an
jenem Dogma fühlt man fich vor Allem aufgefordert
durch den Abschnitt, welchen Ritfehl in feinem grofsen
dogmatifchen Werk (Die chriftliche Lehre von der Rechtfertigung
und Verhöhnung Bd. 3, 1874) der Perfon Chrifti
gewidmet hat. Wie man fich auch zu diefer Erörterung
ftellen mag, foviel leuchtet ohne Weiteres ein, dafs man
es hier mit einer neuen Wendung der Sache zu thun
hat. Wenn dagegen die Ueberfchrift des betreffenden
Abfchnittes, ,die Lehre von der Perfon und dem Lebenswerke
Chrifti', an eine von Schleiermacher der Chriftologie
geftellte Aufgabe erinnert, fo thut auch diefs der
Neuheit keinen Abbruch. Denn einmal weifs jeder, dafs
Schleiermacher dem von ihm aufgehellten Grundfatze,
der fich in jener Zufammenfaffung ausfpricht, felbft nur
fehr unvollkommen genügt hat. Dann aber ift wohl
keiner der von dem grofsen Theologen ausgeftreuten
Keime von den Nachfolgern fo wenig gepflegt, als diefer.
Möge das nachfolgende Referat die Gedankenarbeit, die
auch in diefer Unterfuchung Ritfchl's fteckt, veran-
fchaulichen.

Wäre das Chriftenthum Volksreligion, fo würde von
einem fpeeififchen Werthe des Stifters in der chriftlichen
Religion nicht die Rede fein. Nur für die auf die ganze
Menfchheit gerichtete Religion ergiebt fich die Notwendigkeit
, als die grundlegende Offenbarung Gottes die
Perfon des Stifters anzufehen, deren Gedächtnifs den
Volksreligionen zu entfehwinden pflegt. Der untergeordnete
Werth des Islam tritt fchon darin hervor, dafs
er in diefer Beziehung hinter dem Begriffe der umverteilen
Religion zurückbleibt, indem er nicht fowohl den
Stifter als die durch ihn vermittelten Gebote und 1 .ehren
für das göttlich Werthvolle hält. Dafs dagegen im
Chriftenthum nicht das Letztere, abgelöft von der Perfon
■ des Stifters, als die grundlegende Offenbarung Gottes
1 gilt, fondern jener felbft, kommt daher, dafs hier die
i fittliche und religiöfe Selbftändigkeit des Menfchen
gegenüber der Welt beabfichtigt ift. Ein folches Ziel
wird nämlich nicht durch die göttliche Auctorität einzelner
Gebote und Lehren gewährleiftet, fondern dadurch,
dafs an dem einheitlichen Charakter des Stifters die Erreichung
desfelben als der Erfolg feines auf die Begründung
der Gemeinde gerichteten Berufswirkens anfehaulich
ift. Wenn trotzdem bei den chriftlichen Völkern fich
immer wieder die Neigung zeigt, die Perfon Chrifti als
etwas Zufälliges zurückzuftellen, fo möchte man dies zunächst
daraus erklären, dafs viel von ihm Ausgegangenes
durch die Volksfitte ein Altgewohntes geworden ift.