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Ausgabe: | 1876 Nr. 3 |
Spalte: | 90-91 |
Autor/Hrsg.: | Ahlfeld, Frdr. |
Titel/Untertitel: | Ein Kirchenjahr in Predigten 1876 |
Rezensent: | Lehmann, Ernst |
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Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 3.
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Kirche) infpirirt und unfehlbar, Wort Gottes (II. 216).
Selbft die in ihr enthaltene Erinnerung ift nicht blofs
menfchliche Reminiscenz der Apoftel (I. 93). Aber wie
die Tradition .älter ift als die Schrift, fo ift auch jetzt
die Schrift nicht von dem einzelnen lefenden Subjecte zu
verftehen (I. 107). Neben der grammatifch - hiftorifchen
Exegefe fteht alsftrenger Wächter die Analogia fidei$, I2l).
Wohl ift die Schrift primäre Norm, wie die Symbole
fecundäre Norm find. Aber nur als gepredigte, und
zwar vom Lehramte gepredigte (I. 111). Das Lehramt!
ift zur Bethätigung der Sufficienz der Schrift unentbehrlich
(I. 108). Die Deutlichkeit der h. Schrift ift eigentlich
nur für das chriftliche Lehr- und Hirtenamt, welchem j
dann die Deutlichmachung für die Individuen der Ge- j
meine obliegt (I. 111). Allerdings fordert die Kirche, dafs
das Lehramt fich felbft ftets durch die Schrift normiren
läfst (L 52). Aber letzter Richter über die fchriftmäfsige
Wahrheit ift darum doch diefes Lehramt (I. 134).
Damit find wir zu Vilmars Anficht von der Stellung
des Lehramtes in der Kirche gekommen. In diefem
Artikel verwahrt er fich aus guten Gründen ausdrücklich
gegen die per fönlichen Lehren Luthers (II. 196). Ja
er giebt zu, dafs in der Conf. Aug. der 7. Artikel für fich
allein ,unvollftändig und unrichtig' fein würde (II. 199),
d. h. Vilmars Anflehten widerfpräche Aber er meint,
mit Hinzunahme von Artikel 5. 8. 12. 28. nebft ihren
Ausführungen in der Apologie, beweifen zu können, dafs
die richtige, d. h. vilmarifche, Auffaffung auch die fym-
bolifche fei. Andre Theologen werden freilich in jenen
Artikeln nur lefen, dafs die Reformatoren die fanatifche
Idee einer nur aus fittlich Wiedergebornen beftehenden
äufserlichen Gemeinfchaft abgewiefen, und ein ordnungs-
mäfsiges Lehramt im Dienft des Worts und der Sacra-
mente für nothwendig zum Beftehen der Kirche gehalten
haben, fowie dafs fie den Trägern diefes Amtes, als von
der Kirche zu diefem Berufe beftellten, auch die der
Kirche innewohnende Auctorität d. h. die Spendung der
Gnadenmittel beigelegt haben, wie jedem Beamten die
Auctorität des Staates in feiner Sphäre innewohnt. Von
einem Aufgeben des Gedankens, dafs fich die Wirklichkeit
der Kirche nicht mit ihrer dogmatifchen Idee decke,
oder von einem Amtsbegriffe, der über den Gedanken
der Vollmacht, welche die Kirche austheilt (natürlich
nicht die Einzelgemeine), hinausginge, wird man fchwer-
fich etwas in diefen Artikeln finden.
Anders Vilmar. Er glaubt, dafs die Lehre von der
Kirche, die wir jetzt erleben, noch gröfsere Scheidungen
hervorrufen wird, als die bisherigen Erlebnifse der Kirche,
ja dafs der Ausgang diefes Streites mit dem Auftreten
des Antichrifts zufammenfallen wird (II. 182). Die Kirche,
als die Gemeinfchaft aller Getauften (II. 212), zu welcher
auch die Böfen und Heuchler, als noch fähig zur Bufse,
gehören (II. 200. 202), ift die wahrhaftige gottmenfehliche
Gegenwart Chrifti im Geifte (II. 183). Chriftus ift weder
Stifter noch Gründer der Kirche; das ift Petrus. Er
ift die Kirche, indem er fich durch den h. Geht ausdehnt
.
Aber die Kirche befteht nicht, ohne dafs Perfonen
vorhanden find, durch welche das Seligkeitsgut übermittelt
wird. Diefe Uebermittlung durch Perfonen geht
der Exiftenz der Kirche als Gemeinfchaft voraus (II. 272).
Zur Kirche gehören Mandate und Aemter, wie fich von
Anfang an die Kirche um die Apoftel und die andern
Aemter fammelte (II. 191). Die Gemeine hat, befitzt,
giebt Nichts; fondern fie verhält fich nur empfangend
(II. 275). An die Auctorität des von Chriftus eingefetzten
und fortgepflanzten Hirtenamtes ift die Seligkeit der Gemeine
gebunden (II. 274).
Diefes Lehramt fteht alfo über der Gemeine, und hat
fein Mandat und die dazu gehörige befondere charis-
matifche Kraft aus Chriftus. Pur das Lehramt bittet
Chriftus im hohenpriefterlichen Gebete um feine bleibende
Gegenwart in den Seinen (II. 113). Die Ordination ift j
wohl nicht in dem Sinne wie die Taufe und das Abendmahl
, wohl aber an fich Sacrament, d. h. göttliche befondere
geheimnifsvolle Charismenwirkung (II. 226. 277).
Die alten Charismen der Kirche muffen vom Lehramte
neu entwickelt werden, und find zum Theile immer vorhanden
geblieben. Der Hirt der Gemeine ftellt ihr
Chrifti Perfon dar, indem er das Wort verkündigt, (in
anderem Sinne als auch die Apologie das bei der Frage
der Abfolution mit vollem Rechte fagt). In dem Hirtenamte
ruht das dem Staate völlig zu entziehende Kirchenregiment
(II. 207), ruht die Macht der Sündenvergebung
im exhibitiven Sinne (II. 230), das Richten über Lehre
und Sitte. Aber es liegt ihm auch eine fchreckliche
Verantwortlichkeit ob (II. 281), dargeftellt im Gleichnifse
von den Pfunden. Wer das Amt auf die Gemeine
gründet, der begeht einen die Mehrzahl der Menfchen
um ihre Seligkeit bringenden Irrthum (II. 211). Das war
ja auch im Alten Bunde Korahs Frevel, dafs er aus der
Idee des allgemeinen Priefterthums die Aufhebung des
aaronitifchen Priefterthums herleiten wollte.
Vilmar ift nicht unempfindlich gegen den katholifi-
renden Zug diefer feiner Lehre gewefen; er fagt felbft
II. 196, dafs die zuletzt in den Hiftorifch-politifchen
Blättern entwickelte Anficht von der Kirche eigentlich
nicht die katholifche, fondern die gläubig lutherifche,
d. h. feine eigne fei. Wie fchwach fich in diefer Theorie
das lutherifche Paftorenamt neben dem feit den Apofteln
fortgepflanzten Epifcopate Roms ausnimmt, hat er dagegen
nicht gefühlt. Das theologifche Intereffe diefer
Richtung liegt eben in der Arglofigkeit, mit welcher, wie
in der Schule Puseys in England, katholifche Principien
auf das Mafs deffen reducirt werden, was mit dem
Thatbeftande der lutherifchen Kirche und der Thatfache
der Reformation des 16. Jahrhunderts vereinbar fcheint.
Im Princip ift die in diefem Buche vertretene Richtung
innerhalb des Proteftantismus innerlich unmöglich, fo
fehr die fubjective Gläubigkeit und Ueberzeugung des
Verfaffers unfre Achtung und Sympathie in Anfpruch
nehmen mögen.
Heidelberg. Hermann Schultz.
Ahlfeld. Paft Dr. Frdr., Ein Kirchenjahr in Predigten.
Halle 1875, Mühlmann. (X, 770 S. gr. 8.) M. 8. —;
geb. M. 9. —
Ein neues Predigtbuch von Ahlfeld. Es enthält 68
Predigten, nach dem Kirchenjahr geordnet, aber aus ver-
fchiedenen Jahrgängen flammend. Sie behandeln daher
evangelifche und epiftolifche, fowie auch altteftament-
liche Texte, je nach den verfchiedenen Cyklen des fäch-
fifchen Perikopenbuchs, oder auch nach freier Wahl des
Predigers. Das Buch ift, wie der Verfaffer im Vorwort
fchreibt, zunächft für feine Gemeinde gedruckt und zwar
auf vielfache Bitten aus derfelbcn. Es wird aber weithin
durch die ganze evangelifche Kirche, und gewifs
auch von den Theologen und Geiftlichen freudig begrüfst
und viel benutzt werden. Vor 25 Jahren hat Dr. Ahlfeld
feine erften Predigten über die alten evangelifchen
Perikopen herausgegeben, die noch in Halle gehalten find.
Seitdem ift die Zeit anders geworden. Wer darf fich
wundern, heifst es in der Vorrede, dafs da auch die
Predigt nach vielen Seiten hin eine andre wird? Auch
der Prediger ift nach leiner eignen Ausfage ein andrer
geworden. Er meint, wie im Leiblichen, fo gehe es jetzt
nach 25 Jahren auch im Geiftesleben bei ihm etwas fteifer
her. Wendungen und Bilder feien nicht mehr fo zur Hand,
wie ehedem. Dafür aber lehnten fich die Predigten treuer
an das Wort und enthielten mehr innere Erfahrung,
möchten daher auch für das Leben in dem Herrn in unfern
Tagen manchen reifern Wink geben können. — Nun
ja, der Unterfchied ift ja allerdings nicht zu verkennen.
Allein wir fehen darin keinen Nachtheil für den Erfolg
und den Segen diefer Predigten und meinen, dafs das