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Ausgabe:

1876 Nr. 2

Spalte:

58-63

Autor/Hrsg.:

Köstlin, Jul.

Titel/Untertitel:

Martin Luther. Sein Leben u. seine Schriften. 2 Bde 1876

Rezensent:

Möller, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1876. No. 2.

58 •

arbeit der Auflöfung des Biblifch-Gefchichtlichen in Analogie
- mythen?— Dafs die Vorausfetzung, aktenmäfsige
Profa vor fich zu haben, der Auslegung eine eigenthüm-
liche Färbung geben mufs, liegt auf der Hand; fo ift
die Schlange Gen. 3, 1 das beftimmte vom Teufel be-
feffene Individuum, und man hat nicht an Mtth. 10, 16
bei ihrer Schilderung zu denken S. 11; und doch denkt
der Verf. S. 17 dabei an Aefops Fabel! — fo ift er im
Stande aus der Wiederholung der Scene im Prolog des
B. lob trotz des unverkennbaren poetifchen Parallelismus
kennzeichnende Züge zu erheben; und dgl.—Ohne dem
weiter im Einzelnen zu folgen, haben wir doch eine be-
merkenswerthe Wirkung der Ehrfurcht vor dem Buchflaben
der Bibel hervorzuheben; der H. Verf. überfetzt
z. B. I Cor. 10, 13: ,er macht mit der Verfuchung den
Austritt, es zu können ertragen' und Mtth. 4, 8: .wiederum
nimmt mit fich ihn der Teufel auf einen Berg fehr
hoch' — warum nicht wörtlich: ,hoch fehr?' Für wen ift
diefe Ueberfetzung gegeben? für den, derGriechifch kann?
oder für den, der es vergeffen hat? ein Deutfcher wird
fie fchwerlich verftehen können, wie fehr er auch an
Mifshandlung und Verrenkung feiner Mutterfprache durch
Ausländer und Einheimifche gewöhnt ift.

Doch diefe Auslegung bildet nur die Unterlage für
die Folgerungen; fie werden in vier Abtheilungen gezogen
. Zunächft beleuchtet ein comparativer Theil
den gewonnenen Stoff durch Vergleichung der dreiScenen,
wobei fich denn herausftellt, dafs für eine fachliche Behandlung
die Einfügung des lob mehr Schwierigkeit als
Vortheil mit fich bringt. Das tieffinnige Gedicht hat eben
keine Stelle in dem Fortfehritt der Heilsgefchichte, fondern
nur in der Entwickelung der religiöfen Anfchauungen
Israels.

Der folgende pragmatifche Theil hat fachlich
nachzuweifen, dafs ,das gegenwärtige Object u. Thema'
,abfolut eigenartig mit vollendetem Syftem und Charakter'
fei S. 8 A. Die formale Syftematik ift bereits im Voraus
S. 9. 10 mitgetheilt; fie tritt in dem Fortfehritt des Ver-
fuchens vom Ein- (Eva) zum Zwei- (B. lob) und Dreimaligen
(Jefus), in der Richtung auf das Weib mit der
Intention auf die Menfchheit, auf Gott mit der Intention
auf einen Gottesknecht, auf den Gottmenfchen mit der
Intention auf den Erlöfer hervor. Nun ift die Zweizahl
fo fehr die Zahl des Böfen, dafs die einmalige Verfuchung
fich in zwei Worten, die nächfte in je zwei Worten zweier
Vorgänge, alfo in zwei mal zwei vollzieht — denn es
handelt fich ja um Entzweiung und Zweifel S. 197; bei
dem vorausgefetzten Gegenfatze zur göttlichen Dreizahl
wird man in der Steigerung auf drei Verfuchungen des
Erlöfers mithin wohl fchon eine Wirkung des trinitari-
fchen Wefens und einen den Ausgang präjudicirenden
Mifsgriff Satans zu fehen haben? Die Sache ift doch
nicht fo ganz gewifs, denn die zwei mal zwei kann auch
dem Göttlichen angemeffen fein, wie die Schilderung
Iob's aus Gottes Munde ergiebt S. 198; vielleicht pafst
dann auch gelegentlich wieder die Dreizahl zum Teuf-

lifchen.---Der fatanifche Charakter ift der des Ver-

fuchers, des Reizers zum Abfalle, wobei die Annahme
einer Gottesverfuchung im zweiten Falle befonders dadurch
auffällt, dafs fie fich zu einer Ueberliftung Gottes
fteigert S. 201 A.; feine Methode die Confequenz in der
kritifchen Bezweifelung des göttlichen Wortes refp. der
Perfon vgl. S. 231, welcher eine Benutzung des Gotteswortes
nachhilft, die aber in der Verftümmelung deffel-
ben ebenfo raffinirt als im Grunde dumm ift S. 187 f.
vgl. 129 f.

Abficht und Verfahren haben fich nun einen anpaffenden
Leib in der Ausdrucksweife gefchaffen; daher
werden die 91 hebräifchen und 49 bis 74 griechifchen
Wörter zunächft erörtert, um als die eigentliche Aufgabe
des rhetorifchen Theiles eine fatanifche Styliftik vorzubereiten
.

Alle diefe auf 16 Bogen dargelegten Vorarbeiten

j zielen nun darauf ab, in dem praktifchen Theile unferer
j Zeit ein Spiegelbild vorzuhalten. Der Satanismus unferer
Tage, befonders unferer Literatur, zeigt fich parallel mit
dem aus den Reden erhobenen diabolifchen Charakter
vor allem der Sache nach naturwiffenfehaftlich im Darwinismus
, philofophifch im Peffimismus, pfychologifch
im Apfychismus, politifch in der Staatsomnipotenz, ge-
felllchaftlich in der Socialdemokratie, pädagogifch in der
Säcularifation der Schule und Abfchaffung der theologi-
fchen Facultäten, ritual in der Civilehe und Leichenverbrennung
. Dahin zählt ferner die Neigung für die
Oeffentlichkeit, welches Mittel dem Satan felbft Einflufs
auf die Entfchlüffe Gottes verfchafft hat!! (vor den
Heerfcharen im lob). Die von a—n gehende Aufzählung
von Vergleichungspunkten für den Styl des Satanismus
, der an Scherr und durch Overbeck an den Halben
rechter und linker Wendung exemplificirt wird, mag S.
302 f., vgl. 244 f., nachgelefen werden.

Le style cest le diable S. 307 — das fcheint das Samenkorn
diefer reich entwickelten Pflanze, wiederum parallel
mit le style cest dien. Haben wir der Verheifsung des
Cuftoden zu glauben, nach welchem hier Nr. 1 einer
Reihe vorliegt, oder dem Titel, welcher die neuefte Bibel-
ftudie ankündigt? kaum wird der bibliciftifche Pofitivis-
mus einen Schritt weiter thun können. Schade, dafs
fein Superlativ und die damit gewöhnlich verbundene
Zügellofigkeit eines geiftvollen aber zum Abfonderlichen
neigenden Subjectivismus die dankenswerthe Gelehrfam-
keit für weite Kreife unnutzbar machen wird; noch mehr
Schade, dafs manches aus treuer Gefinnung, frommem
Tiefblick und unbeftechlicher Wahrhaftigkeit erwachfene
treffende Wort feine .elenchtifche' Abzielung und Kraft
nicht wird in Wirkfamkeit fetzen, weil es durch die Nach-
barfchaft von Uebertreibungen verdächtigt und durch
die ebenfo übermäfsig umfängliche, als den Sinn der Zeit
auch in feiner berechtigten Eigenart abftofsende Faffung
ungeniefsbar gemacht oder verfteckt wird.

Halle aS. M. Kahler.

Köstlin. Confift.-R. Pfr. Dr. JuL, Martin Luther. Sein Leben
u. feine Schriften. 2 Bde. A. u. d. T.: Leben u. ausgewählte
Schriften der Väter u. Begründer der lu-
therifchen Kirche. 1. u. 2. TU. Elberfeld 1875, Fride-
richs. (VIII, 811 u. II, 679 S. gr. 8.) M. 15. —

Dafs diefes bereits vor Jahresfrift in die Oeffentlichkeit
getretene und von den verfchiedenften Seiten hoch
willkommen geheifsene Werk hier noch zur Befprechung
gelangt, wird in der hervorragenden Bedeutung deffelben
und in dem Reichthum der darin niedergelegten For-
fchung feine Rechtfertigung finden. Es hilft einem feit
lange von Allen, die fich mit der Reformationsgefchichte
befchäftigen und daran Intereffe haben, bitter empfundenen
Mangel ab und wird vorausfichtlich auf längere
Zeit hinaus für die verfchiedenartigen Forfchungen auf
dem Gebiete der Reformationsgefchichte, welche doch
alle mit dem Leben und Wirken des grofsen deutfehen
Heros der Reformation fich mehr oder weniger berühren,
einen unentbehrlichen Anhalt bieten. Referent, als einer
der Mitarbeiter an dem Gefammtwerk, an deffen Spitze
nunmehr Köftlin's Arbeit tritt, begrüfst um fo freudiger
diefe Krönung des Gefammtunternehmens, dem bisher
gerade das Befte und Wichtigfte fehlte. Es war auch
die gröfste und fchwierigfte Aufgabe. Ein Leben Lu-
ther's, welches einerfeits auf der Höhe der wiffenfehaft-
lichen Forfchung der Gegenwart flehend den unermefs-
lichen Stoff beherrfcht und kritifch fichtet, und die tau-
fendfachen Verbindungsfäden fefthält, welche diefe Perfon
mit allen Bewegungen der gährenden Zeit verknüpfen,
welches zugleich ruht auf einer lichtvollen Auffaffung,
auf einem Gefammtverftändnifs der Zeit überhaupt, und
welches doch andrerfeits die Aufgabe der Biographie