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Ausgabe:

1876 Nr. 2

Spalte:

52-55

Autor/Hrsg.:

Ewald, H.

Titel/Untertitel:

Ueber das Leben des Menschen und das Reich Gottes. 4. Bd 1876

Rezensent:

Baudissin, Wolf Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 2.

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folcher ift in der That nicht durchzukommen. Ganz un-
jüdifch ift z. B. die Sitte, beim Gebet hch nach der
Sonne hin zu wenden. Wenn der Verf. p. 139, um die
Unmöglichkeit diefer Sitte innerhalb des genuinen Judenthums
darzuthun, mit Recht auf Ezech. 8, 16 hinweift,
fo hätte er auch noch an I. Kön. 8, 38. Pf. 5, 8. Dan.
6, 11. II. Chron. 6, 34. III. Efra 4, 58. Mischna Berachoth
IV, 5'—6. Sukka V, 4 erinnern können, nach welchen
Stellen beim Gebet die Richtung nach dem Tempel
hin ebenfo geboten, wie die nach der Sonne zu verpönt
war.

Bei der Charakteriftik der coloftifchen Gemeinde
macht L. p. 41—44 aufmerkfam auf die intereffanten
Parallelen zwifchen dem paulinifchen Brief an die Gemeinde
von Coloffä u. dem apokalyptifchen Sendfchrei-
ben an ihre NachbargemeindeLaodicea (Apok. 3, 14—21).
Er meint, es fei nicht zufällig, dafs die einzige Parallele
zu Col. 1, 15 fich Apok. 3, 14 findet (rj a.Q%ij r.ijg xrioeag
rov &eov), und dafs im Coloffer- wie im apokalyptifchen
Laodicenerbrief vor geiftlichem Hochmuth gewarnt
wird (Col. 2, 8. 18. 23. Apok. 3, 17—18). Ref. hält
diefe Beobachtung für fehr beachtenswerth. Die gleichen
Zuftände in den Nachbargemeinden mögen gleiche Er- j
mahnungen und gleiche dogmatifche Ausführungen ver-
anlafst haben.

Der Commentar wird in Form von Anmerkungen
unter dem Text gegeben. Leider hat es Lightfoot unter-
laffen, feinem Text einen ausgewählten kritifchen Apparat
beizugeben. Ref. kann nicht umhin, den dringenden |
Wunfeh auszufprechen, dafs es dem Verf. gefallen möge,
bei den zu erwartenden neuen Auflagen und bei den j
Fortfetzungen des Werkes diefe Lücke auszufüllen. |
Gerade der Umftand, dafs man in Tifchendorf's grofser
kritifcher Ausgabe mit einer Maffe von Material über- j
häuft wird, macht eine auf das Nothwendigfte fich be-
fchränkende Auswahl im höchften Grade wünfehens-
werth. Bei Feftftellung des Textes hat L. dem Vaticanus !
eine entfeheidendere Stimme eingeräumt, als es Tifchen- I
dorf gethan, und das mit Recht. Um fo auffallender ift
es, dafs er zuweilen (z. B. i, 12. 16. 22) Lesarten beibehält
oder doch nicht entfehieden verwirft, welche I
Tifchendorf auf Grund von nB oder B mit Recht verworfen
hat. Hier hätte Lightfoot confequenter an der
Autorität von B feilhalten follen. Der Commentar ift [
knapp in der Form und doch äufserft reichhaltig an
Material. Es ift dies dadurch ermöglicht, dafs abweichende
Anflehten faft nie angeführt werden, obwohl
der Verf., wie man deutlich fieht, in der exegetifchen
Literatur, auch der deutfehen, gründlich zu Haufe ift.
Nur zu einzelnen Stellen, wie zu ttocitotoxoc näörjg xrtOsag
1, 15, giebt er, und dann wiederum fehr vollftändig, die
Gefchichte der patriftifchen Exegefe. Aber in der Regel
begnügt er fich damit, feine eigene Auffaffung zu begründen
. Seine Exegefe hat etwas von der nüchternen Art
Meyer's. Sie hält fich ftreng an ihre nächfte Aufgabe:
die Erläuterung des vorliegenden Textes, welchem
Wort für Wort forgfältig nachgegangen wird. Die Auffaffung
der grammatifchen Verhältniffe dürfte vielleicht
hie und da noch etwas fchärfer fein. Z. B. über die
wichtige Frage, wie der aor. tvdöxnGtv 1, 19 aufzufaffen
fei, wird ftillfchweigend hinweggegangen, und man erfährt
nur indirect, wie ihn der Verf. verftanden. Aber
was hier etwa fehlt, wird reichlich erfetzt durch die Fülle
exegetifchen Materiales, das an zahlreichen Stellen nicht
unerheblich über unfer bisheriges Befitzthum hinausgeht.
Sowohl' aus den LXX, wie aus der patriftifchen und
der claffifchen Literatur wird reichlich beigefteuert.
Sehr rühmenswerth ift auch das Beftreben, die Ausführungen
unferes Briefes zu verliehen als veranlafst
durch die beftimmten vorliegenden Verhältniffe, alfo
durch die Eigenthümlichkeiten der in Coloffä aufgetretenen
Lehre. Es wird dadurch manche in einem
paulinifchen Briefe zunächft auffällig erfcheinende Wendung
in ein Licht gerückt, in welchem fie viel von ihrer
Auffälligkeit verliert.

In der Einzelauslegung kann Ref. allerdings nicht
überall beiftimmen; auch nicht in der Auslegung der
chriftologifchen Stelle, die trotz ihres lobenswerthen
Strebens nach Objectivität fich doch nicht hinreichend
von den Kategorien der kirchlichen Dogmatik frei hält.
Bei dem Ausdruck slxtav rov 9sov rov ctoodrov ift z. B.
der Verf. ganz auf der richtigen Fährte, wenn er ihn
umfehreibt the visible representation of the unscen God.
Aber er bringt dann fofort die hieher durchaus nicht gehörende
Logos-Idee herein, wodurch die Exegefe in
völlig fchiefe Bahnen geleitet wird. Nicht als göttlicher
loyog, fondern als av&Qa)7tog tnovQccviag und Ttvsvfumxog,
dem ein 6mu.ee vfjg 86<~t]g, eine göttliche pooqprj eignet,
alfo vermöge feiner pneumatifchen Leiblichkeit, die auch
fchon dem Präexiftenten zukommt, ift Chriftus im paulinifchen
Sinne slxoov rov fteov rov äooärov. Dies ift der
echt paulinifche Gedanke unferer Stelle, den man nicht
durch dogmatifche Einlegung in's Unpaulinifche umdeuten
feilte. Auch die Auslegung von naaröroy.og
Ttäövg xriöscag ift bei Lightfoot zu fehr von dogmatifchen
Gefichtspunkten beherrfcht. Ebenfo diejenige von V.
1, 19, wo er den Gedanken der ewigen Einwohnung
der Gottheit in Chrifto findet, ftatt den aor. evööxr/öEV auf
den Moment der Erhöhung Chrifti zu beziehen, was
allein dem Zufammenhang mit V. 20 entfpricht und allein
einen paulinifchen Gedanken ergiebt. Ref. ift überhaupt
der Ueberzeugung, dafs bei Auslegung des ganzen chriftologifchen
Abfchnitts noch vielfach dadurch gefehlt wird,
dafs man ihn zu fehr von den Prämiffen der kirchlichen
Chriftologie aus erklärt. Hinterdrein findet man dann
freilich, dafs fehr viel Unpaulinifches darin fei — nachdem
man es nämlich felbft erft hineingelegt hat. Bei
richtiger Auslegung enthält die Stelle Einiges, was in
den übrigen Briefen fich nicht findet; aber nichts, was
mit ihnen unverträglich wäre. Die wirklichen Schwierigkeiten
, mit welchen die Vertheidigung der Echtheit zu
kämpfen hat, liegen nicht in den Gedanken an und für
fich, fondern in der Form, in welcher fie dargelegt
werden, d. h. im Stil.

Die Excurfe, welche Lightfoot feinem Commentare
beigegeben hat, behandeln 1) eine Reihe textkritifcher
Fragen, 2) die Bedeutung von %l)joiou:u, welches richtig
als the totality of the Divine powers definirt wird, endlich
3) den Laodicenerbrief Col. 4, 16, bei welcher Gelegenheit
auch der Text des apokryphifchen lateinifchen
Laodicenerbriefes mit vollftändigem kritifchem Apparate
mitgetheilt wird. —■ Wir fchliefsen mit dem Wunfche,
dafs die trefflichen Commentare Lightfoot's fich auch
bei uns in Deutfchland einbürgern möchten, was bisher,
wie es fcheint, noch gar nicht der Fall gewefen ift.

Leipzig. E. Schürer.

Ewald, H., Ueber das Leben des Menschen und das Reich
Gottes. A. u. d. T.: Die Lehre der Bibel von Gott
oder Theologie des Alten und Neuen Bundes. 4. Bd.
Leipzig 1876, Böhme & Drefcher. (XVI, 279 S. gr. 8.,
M. 6. 60.

In der feltfamer Weife erft mit dem vierten Bande
von Ewald's' ,Lehre der Bibel von Gott' erfchienenen
Vorrede zu dem erften Bande aus dem Jahre 1871 bezeichnet
der Verf. dies Werk als ein folches, an welchem
er im Geifte nun faft ein halbes Jahrhundert arbeite. Es
ift in mancher Beziehung eine Zufammenfaffung der zer-
ftreuten Refultate der Schriftforfchung des Verfaffers,
und es war ein fchöner Abfchlufs der langen und ausgedehnten
Arbeit Ewald's auf diefem Gebiet, dafs dem
nun Heimgegangenen noch vergönnt war, diefes Werk
erfcheinen zu fehen. Von dem letzten Band hat er noch

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