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Ausgabe: | 1876 Nr. 24 |
Spalte: | 617-618 |
Autor/Hrsg.: | Wichelhaus, Joh. |
Titel/Untertitel: | Akademische Vorlesungen über das Neue Testament. II. Bd. Das Evangelium Matthäi 1876 |
Rezensent: | Schmidt, Woldemar |
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Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 24.
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Abhängigkeit von den griechifchen Ueberfetzungen,
endlich die Art der Ueberfctzung felblt, die nicht
auf möglichft wörtliche, fondern möglichft finngemäfse
Uebertragung ausgeht. Die Nichtbeachtung des letzteren
Punktes ift es vor allem gewefen, die zur Plrfindung
augeblicher Varianten im hebr. Text des Hieron.
geführt hat. Im zweiten Thcil wird der Reihe nach
der Confonantentext, die Wortabtheilung und die Voca-
lifation des Hieron. einer näheren Erörterung' unterzogen
. Die fo gewonnenen Rcfultate präcifirt der Verf.
pag. 55 dahin: der Text des Hieron. war völlig unpunk-
tirt und ohne diakritifche Zeichen, die Wortabtheilung
faft ganz gleich der maforethifchen; die Vocalifation fteht
derfelben unter allen alten Verfionen am nächften.
Manche Varianten verdienen den Vorzug vor dem mafor.
Text; in Bezug auf das Fehlen gröfscrer Zufätze ftimmt
Hieron. mit den Maforethen überein. Bcfonders da, wo
Hieron. eigenthümlichc oder mit Targum und Syrer
übereinftimmende Lesarten bietet, ift er ein unverdächtiger
Zeuge für den befferen, resp. urfprünglichen Text.
Von diefen Refultaten hätten wir nur eines zu beanltan-
den, dafs nämlich der hebr. Text des Hieron. aller
diakritifcher Zeichen entbehrt habe. Dies würde wenig-
ftens dann unrichtig fein, wenn der Verf. auch die Poicta
extraordinaria dazu rechnet (vgl. Hieron. quaest. zu Gen.
T9> 33)- — 1° der praef. Hier, in Ps. (pag. 12, Z. 7) ift
ftatt des contorten expectant — expetant zu lefen, wie auch
de Lagarde giebt; auf derf. Zeile perversissimi; pag. 10,
Z. 9 n:?:*pn; pag. 18, Z. 1 der Anm. Salom.; pag. 43,
Z. 7 in/.: Buxtorf. Von Eichhorn's Einl. ins A. T.
dürfte ftatt der 2. Aufl. lieber die 4. zu citiren fein.
Bafel. E. Kautzfeh.
Wichelhaus, weil. Prof. Johs., Akademische Vorlesungen
über das Neue Testament. II. Bd. Das Evangelium
Matthäi. Herausgegeben und ergänzt von Dompred.
Dr. Ad. Zahn. Halle 1876, Fricke. (VI, 437 S.
gr. 8.) M. 4. —
Zu den Bruchflücken akademifcher Vorlefungcn über
biblifchc Dogmatik und einige neutcftamcntliche Briefe,
welche Zahn aus des verewigten W. Nachlafs kürzlich
publicirt hat (vgl. Nr. 14), tritt jetzt diefc Erklärung des
Ev. Matth., der noch ein Commentar zum Ev. Joh. folgen
foll. Auch diefc neue Arbeit würde ein Bruchftück fein,
wenn nicht der Herausgeber die Einleitung ergänzt und
vor Allem eine Erklärung von Matth, c. 19—26 gegeben
hätte. Auf ihn ift überdem wohl manche kleinere Bemerkung
(wie S. 268) zurückzuführen, die als fremdes Beiwerk
nicht markirt ward. So identificirt fich das Wort
des Schülers mit dem des Lehrers, und die Kritik wird
mit dem Letzteren auch jenen treffen. Als dankbare
Leser denkt Zahn eine .kleine Gemeinde', den .trauten
ITeundeskreis', dem das Buch gewidmet ift; darüber hinaus
wird es kein fonderliches Lob erfahren. Bei feinem
ausgefprochenen Gcgenfatz zu der .modernen Theologie
feit Schlciermacher' hat der Vcrfaffer für die neueren
Arbeiten wahrhaft wiffenfehaftlicher Kritik keine Anknüpfung
, weifs auch Darftellungcn des Lebens Jcfu nicht
zu würdigen, welche mit dcnfelben in inncrem Zufammcn-
hange flehen. Schon die Einleitung dient als Beweis hierfür
. Wo W. das .grofse, heilige Räthfel der Synoptiker'
befpricht, erklärt er nur die Tradition als gemeinfame
Quelle aller Evangelien. ,Die Erzählungen wurden gleich-
fam ftcreotypirt: fie blieben in ihren Worten gebannt und
wanderten mit dcnfelben in die weite Welt. Das ihnen
von den Apofteln umgelegte Kleid zerrifs nicht, fondern
wurde als wirklich heiliger Rock bewahrt' (S. 38;. Damit
ift natürlich allen Verfuchcn, die drei Evangelien aus fich
felbft zu begreifen, das Recht genommen, aber auch die
Thätigkcit der Evangcliftcn zu einer fchr mechanifchen
herabgedrückt, ihre Predigt in die Feffeln des Buch-
ftabens gelegt. Und wie häuft der Verf. Irrthum auf
Irrthum, wenn er jene Anfchauung begründend die volle
Selbftändigkeit des Luc.-Ev. nach dem Proömium des-
felben behauptet, wenn er vor der Schrift des Lucas
keine fchriftliehc Quelle apoftolifchen Anfehens exiftiren
und weder Spruchfammlung noch Urmarcus unter den
nolXoi, die zuerft gefchrieben, eine Stelle finden läfst.
Damit wird der ficherfte Ertrag folidefter Schriftkritik als
werthlofes Gut einfach über Bord geworfen. Specicll
das Ev. Matth, foll, wie von W. nicht anders erwartet
werden kann, urfprünglich gricchifch gefchrieben fein, und
des Papias Nachricht über die aramäifche Urfchrift auf
einer Verwechfelung des Ev. mit dem erayytlmv xatP
'PßQaiovs beruhen. Der dornenvollen Unterfuchung, wo
der Urmatthäus aufhört und wo die Arbeit des fpäteren
Redactors beginnt, ift er hierdurch glücklich überhoben.
Im ganzen Ev. fieht er eben einen völlig einheitlichen
Lehrcharakter ausgeprägt; ,wie fprachlich, fo ift es auch
in feiner Lehre aus einem Guffc und ohne „fremdes Silber"
(S. 17). Auch längere Reden Jefu unterwirft er von da
aus der Beurtheilung. So ift die Bergpredigt ihm ein
Abrifs der Lehre Jefu, ,wie nur ein Apoftel ihn geben
konnte' (S. 140); und mifst man dem Bericht des Apoftels
einen geringeren Grad von Kanonicität bei, als wenn man
Jefu eigene Worte vor fich hätte, fo beweift man damit
nur, ,dafs man an die Gottheit des heiligen Geiftes nicht
glaubt' (cbendaf.). ,Es ift Blindheit und Undank, wenn
man hier bei der Perfon des Menfchen Matthäus flehen
bleiben will' (S. 141). Dergleichen Expectorationen dürfen
auf das rechte Mals zurückgeführt in einer praktifchen
Schriftauslegung vielleicht mit unterlaufen, aber haben
kein Heimathsrccht auf akademifchem Katheder. Sie
zeigen an ihrem Thcile, dafs der Verf. mit echt wiffenfehaftlicher
Kritik keine Fühlung hat.
Seine Beurtheilung der vom Evangeliften referirten Ge-
fchichte Jefu ergiebt fich aus dem Bisherigen faft von felber.
Allenthalben ift die volle Wirklichkeit der erzählten Facta
feftgehalten, und wo diefelbe dem kritifchen Blick nicht
völlig durchrichtig ift, wird die Macht des Zweifels und
des Unglaubens für die Einwendungen der Exegcten verantwortlich
gemacht: Jefu Verfuchung z. B. ,ift und bleibt
eine wahre und wirkliche Gefchichte und ift einfach (!)
I fo zu nehmen und zu erklären, wie fie vom heiligen Geilte
aufgezeichnet ift' (S. 126). Nicht anders beurtheilt W.
S. 271 den Bericht über den .Geldfifch, bekanntlich ein
fchweres Aergernifs des Unglaubens' und S. 196 fg. den
über die zwei Befeffenen im Lande der l^eQotanioi (denn
fo, nicht I'aöagrjvol, lieft W. mit Recht 8, 28), welche
den neueren Theologen angeblich deshalb fehr mifsfallen
haben, weil man dem Schriftwort nicht glauben will, fobald
es Dinge erzählt, welche vorgefafsten Meinungen, Dogmen
und Zeitvorftellungen nicht bequem find. Einzelne Ex-
curfe — wie S. 100 ff. über den religiöfen Zufland der
Juden zur Zeit des N*. T.,( S. 185 ff. über Jefu Wunder,
S. 194 über den Namen ö v'iog toö ccv9qo')/tov u. A. —
geben im Allgemeinen Richtiges mit guter Abgränzung.
Bei der Einzelexegefe liebt es der Verf., alte Verfionen,
namentlich die Pefchito zu vergleichen. Auffallend war
uns, dafs 3, 11 heiliger Geilt und Feuer wieder als fyno-
nyme Begriffe gefafst find; dafs 16, 18 nkget nicht ent-
fchieden genug auf Petrus oder wie Meyer treffend
gefagt hat ,auf die in der Perfon des Apoftels daftchende
Felfennatur' gedeutet wird; dafs 24, 24 als Fundamental-
ftelle für die Prädeftination gelten foll. Mit des Verf.'s
exegetifchen Vorausfetzungen hängt die Meinung zu-
fammen, dafs von einem Widerfpruch der Gcnealogieen
bei Matth, und Luc. nicht die Rede fein kann (S. 77),
auch die ftarke Neigung (S. 173 lg.), die Doxologie am
Schlufs des Vater Unfer als echt feilzuhalten. Doch ich
breche ab, und vielleicht habe ich die Lefer und mich
felber bei diefer Schrift fchon zu lange aufgehalten.
Leipzig. Wold. Schmidt.