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Ausgabe: | 1876 Nr. 23 |
Spalte: | 603 |
Autor/Hrsg.: | Riggenbach, Bernhard |
Titel/Untertitel: | Der Diener des göttlichen Wortes als Diener der modernen Gemeinde 1876 |
Rezensent: | Krauss, Alfred |
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603
Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 23.
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evangelifche Gefinnung aus, und gewifs wird es Niemand
aus der Hand legen, ohne fich belehrt und angeregt
zu fühlen.
Strafsburg. A. Kraufs.
Riggenbach, Pfr. Dr. Bernh., Der Diener des göttlichen
Wortes als Diener der modernen Gemeinde. Eine pafto-
ral-theologifche Skizze. Bafel 1876, Detloff. (27 S.
gr. 16.) M. — 60.
Es ift eine eigene Sache um Vorfchläge, wie man wirken
follte, um in unferer Zeit das geiftliche Amt wirkfamer
zu machen. Gewöhnlich fafst man nur den eigenen Kreis
in's Auge, innerhalb deffen man fich bewegt, und Andere
, die andere Erfahrungen gemacht haben, finden
fich dann in die beftgemeinten Rathfchläge nicht hinein.
Als Beitrag zur Charakteriftik fehweizerifcher Stimmungen
und Strebungen ift das Schriftchen recht intereffant. Es
geht durch die fchweizerifche Geiftlichkeit das Gefühl,
mit der Stellung, welche die Kirche im Volksleben einnehme
, müffe es anders werden und zwar durch An-
ftrengung der Geiftlichkeit felber. Nun fucht man den
Sitz des Uebels. Bezeichnend ift, dafs die Sache fofort
von der pädagogifchen Seite aufgefafst wird. In der
Geiftlichkeit felber werden die Stimmen immer häufiger
und immer lauter, welche fagen: wir felber müffen andere
werden, und darum mufs der Gang des Studiums, mufs
auch das Examenreglement anders werden. Um die Berechtigung
der theologifchen Facultäten im Ganzen der
Univerfität kümmert man fich nicht fo viel als um die
Methode der theologifchen Docenten und um die beftc
Gymnafialbildung. Die Pfarrer follen eifriger und felbft-
lofer als Sauerteig wirken, aber auch die Profefforen
mehr den zukünftigen Pfarrer und Volksmann im Auge
haben. Die paftoral-theologifche Studie ift lebendig, nur
etwas allzu fehr in gefuchten Wendungen und Ausdrücken
gefchrieben.
Strafsburg. . A. Kraufs.
Hallier, Prof. Dr. Ernft, Naturwissenschaft, Religion und
Erziehung. Jena 1875, Dufft. (XII, 272 S. gr. 8.)
M. 4. —
Begeiflert von den nationalen Erfolgen Deutfchlands
nach Aufsen und von der in Angriff genommenen ,noch
weit gröfseren Aufgabe nach Innen, das Staats- und
Volksleben der Deutfchen von geiftiger Knechtfchaft zu
befreien', glaubt der Verf. in letzterer Hinficht fich der
vorderften Feuerlinie der Kämpfer mit feinem Buche
beigefeilen zu follen, um die völlig ftecken gebliebene
Aufklärung des vorigen Jahrhunderts auf allen ein-
fchlagenden Gebieten, insbefondere aber auf dem central-
bedeutfamen Boden der Erziehung fördern zu helfen.
Denn politifch Männer geworden, dürfen wir nicht
geiftig Kinder bleiben. Um mit einem formalen Einwand
zu beginnen, der übrigens auch material die gröfste Bedeutung
hat, fürchte ich nun freilich, dafs H. fich eine
bei Weitem zu grofse Aufgabe geftellt hat, wenn er auf
verhältnifsmäfsig befchränktem Raum fich fo ziemlich
über alle die fchwierigen geiftigen Fragen unferer Gegenwart
decidirend ausläfst, ohne irgend ftreng bei dem
Faden zu bleiben, den die Zufammenftellung der Probleme
in feinem Titel erwarten liefse. Zu jener viel
weiter gehenden Leiftung wäre unferes Erachtens kaum
eine eminent vollendete Meifterfchaft im Stande, während
uns hier rund und ehrlich gefagt gar mannichfach ein
ziemlich ftarker Dilettantismus, ein fich beträchtlich
überfchätzenderEncyklopädiftcngeift entgegentritt. Denn
durch die nichtsfagend weite und dehnbare Formel:
,Alle Wiffenfchaft ift Naturwiffenfchaft' erlangt der Vertreter
eines fpeciellften Fachs der fpeciellen Naturwiffenfchaft
noch lange nicht das Recht zum Anfpruch auf
Allwiffenfchaftlichkeit. So rühmlich zumal in unferen
Tagen der zerfplitterten Fachbildung eine umfaffende
Vielfeitigkeit des wiffenfehaftlichen Intereffcs ift, fo
wenig darf letzteres vergeffen, dafs ihm doch nur auf
wenigen Gebieten die Rolle der Spontaneität zufteht,
während es im Uebrigen die Pflicht der mafsvollen Be-
feheidenheit ftreng zu wahren hat. Wie fchwer diefe
von H. verletzt wird, dafür fei von mir als total Unparteiischem
nur fein bodcnlofcs Aburtheilcn oder
vielmehr Schimpfen über Straufs angeführt. Undank
ift der Welt Lohn! Dem armen ,Theologen' (!) Straufs
des alten und neuen Glaubens wird hier von dem
fcheints allfeitig allein competenten Mann der Naturwiffenfchaft
nicht etwa Ignoranz in letzteren Fragen,
fondern totale philofophifchc Unbildung, völliger
Mangel an Verftändnifs, ja theilweife fogar an Bekannt-
fchaft mit Kant vorgeworfen und bei feiner — Straufsens
— Bekämpfung der perfönlichen Unfterblichkeit nur die
Wahl zwifchen dem Lügner oder dem Narren gelaffen.
Das fleht mit wenig anderen Worten S. 36 und 42 zu
lefen, wie dem Verf. auch fonft der ,Theolog' (oder mit
feiner Lieblings-Titulatur vielleicht gar der Pfaffe?) Straufs
tödtlich verhafst zu fein feheint. Möge der gebildete
Lefer, fei er Freund oder Feind des berühmten Verdorbenen
, über eine derartige Kritik felbft urtheilen,
ich halte es für überflüffig, ihr ein Wort weiter zu
widmen.
Was nun die eigene materiale Leiftung H.'s anlangt, fo
fteht im Mittelpunkt eine,mit Hilfe des Kantifchentranscen-
dentalen Idealismus' vollzogene eigenthümliche Synthefe
des refoluteften mechanifch-materialiftifchen Naturalismus
mit einem gleichfalls fehr entfehiedenen Idealismus der
bekannten drei metaphyfifchen Ideen. Denn der modifche
,Monismus' wird, übrigens fehr wahr und treffend gegenüber
von vielen wenn auch nicht allen Vertretern
desfelben, als platte Wiederauflage des 2000 Jahre alten
griechischen Atomismus total verworfen. Wenn ich in-
defs jene Synthefe H.'s eine ,eigenthümliche' nenne, fo
mufs ich dies fogleich gegen das Mifsverftändnifs
reftringiren, als ob fle H.'s Eigenthum wäre, wie er trotz
einer leichten Vorwortsberufung auf Vorgänger im Verlauf
und bei Hauptpunkten dennoch wiederholt (z. B. S.
80. 81) behaupten möchte. Vielmehr ift diefelbe im
Ganzen und Einzelnen völlig unverkennbar, wenn auch
foviel ich fehe ohne Namensnennung nur eine ver-
fchlechternde Entlehnung aus des Philosophen Lange
allbekannter Gefchichte des Materialismus, wo fle mit
viel gröfserer Schärfe und dialektifcher Gewandtheit
ebenfalls den taufendmal betonten Mittelpunkt des Ganzen
bildet. Ich nenne es eine verschlechternde Entlehnung;
denn wenn es der mir vergönnte Raum geftattete, fo
liefse fich leichtlich nachweifen, dafs H. nicht wahrhaft
hinaus kommt über das Schwanken zwifchen einem Kan-
tifch modificirten und einem von Lange viel ftärker idea-
liftifch gefafsten und nur als Doppelauffaffung desfelben
Unbekannten formulirten Dualismus. Zu letzterer Anficht
neigt H. zwar den Worten nach am ftärkften hin (S. 230.
232 f.); wie reimt fleh aber damit fein von Lange gewifs
perhorrescirtes, offenbar gegen Vogt und Büchner zweimal
wiederholtes Bild, der Geift verhalte fleh zu der
Gefammtheit der realmechanifchen, fpeciell im Hirn
concentrirten Proceffc, wie der Klavierfpieler zum Klavier?
Das find denn doch nicht blofs zwei Betrachtungweifen
desfelben Objects! Hiervon auch abgefehen erscheinen
bei H. die grofsen Schwierigkeiten nur potenzirt, welche
neben manchen Andern z. B. auch ich in meiner Be-
fprechung von Lange's Materialismus (Jenaer L.-Z. 1874,
38. 1875, 38) hervorzuheben mir erlaubte. In einer
Weife, die an allem gefunden Menfchcnverftand fleh
brechen mufs, ift aber jetzt von H. die Einheit des
Menfchenwefens aufgehoben. Faft ncuplatonifch fehwebt
der Idealmenfeh als Doppelgänger über feinem Bruder,
dem ,liommc machhie'. Unfer eigener Geift ift für uns
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