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Ausgabe:

1876

Spalte:

592-600

Autor/Hrsg.:

Lilienfeld, Paul von

Titel/Untertitel:

Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft. 2. Theil: Die socialen Gesetze 1876

Rezensent:

Oettingen, Alexander

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59'

Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 23.

592

3. Die Schrift von Langen ift vom Ref. bereits in der
Jenaer Lit.-Z. Nr. 19 diefes Jahrgangs angezeigt worden. Er
will daher hier nur bemerken, dafs diefelbe, obgleich
ebenfalls mit vieler Kenntnifs und gelehrten Sorgfalt
gearbeitet, doch gegen die des Engländers zurückfteht;
denn fie gleicht mehr einer wohl ausgeftatteten Reihenfolge
der griechifchen und lateinifchen Belegftcllen,
während wir von Sw. eine wirklich ins Innere dringende
Gefchichte der Controverfe erhalten. Beide Verfaffer
haben, was wir tadeln müffen, Photius und die nachfolgenden
Polemiker unberückfichtigt gelaffen und beide i
haben die Neigung, die ältere griechifche Lehre fo zu
deuten, dafs fie durch Anerkennung eines immanen-
ten per filium der lateinifchen nahegerückt wird, — eine
Neigung, welche, wie wir meinen, fich aus den Quellen ;
nicht hinreichend rechtfertigt. — Es ift dankenswerth,
dafs Sw. aufser einigen anderen hiftorifchen Beilagen
auch S. 238 die Befchlüffe der Bonner Unionsconferenz
vom vorigen Jahre aufgenommen hat; man kann fich
alfo nicht enthalten, auch auf diefes jüngfte urkundliche
Datum der alten Angelegenheit noch einen Blick zu
werfen. Bekanntlich find diefe Refolutionen gräcifirend i
und zugleich vermittelnd ausgefallen. Der Zufatz fihoque
wird abgelehnt, weil er nicht in kirchlich rechtmäfsiger j
Weife erfolgt fei, und jede Vorftellung oder Ausdrucks-
Weife verworfen, in welcher die Annahme zweier Prin-
eipien innerhalb der Dreieinigkeit enthalten wäre. Darauf
folgen fechs genauere Beftimmungen, ganz im Anfchlufs
an die Erklärungen des Johannes von Damascus und
im Sinne der Lehre der ,alten ungetrennten Kirche'.
Der Lefer fragt fich hier unwillkürlich, ob überhaupt
eine fo fcharfe Formulirung dem Unionszweck dauernd
entfprechen werde, und namentlich erregen die vermittelnden
Sätze Bedenken: ,der h. Geift geht aus aus dem
Vater durch den Sohn', und ,der h. Geift bildet die j
Vermittlung zwifchen dem Vater und dem Sohn, er ift
durch den Sohn mit dem Vater verbunden', — weil |
durch fie der Streitpunkt verdeckt wird. Ref. kann nur
wiederholen, was er anderwärts ausgefprochen hat. Sollen
Friede und Eintracht fortan beftehen: fo fcheint nöthig,
fich über das Streitige zu erheben, nicht durch eine '
wohl überlegte Ausgleichung, fondern dadurch, dafs die j
Möglichkeit zweier Anflehten anerkannt, die Differenz
alfo ehrlich freigegeben wird.

Heidelberg. Dr. Gafs.

Chantepie de la Saussaye's, Prof. Dr. D., Ausgewählte
kleinere Schriften. Ins Hochdeutfche übertragen
von R. Greeven. Mit einem Nekrolog als
Vorwort von Friedr. Fabri. 2 Bde. Gotha 1876, F.
A. Perthes. (XXXVI, 393 u. 295 S. m. photogr.
Portr. gr. 8.) M. 10. —

Die zwei Bände, welche uns vorliegen, bieten uns '
in einer anfprechenden, hochdeutfehen Uebertragung eine
Auswahl von populären religiöfen Vorträgen des 1874
verftorbenen angefehenen und auch bei den Gegnern
hochgeachteten niederländifchen Theologen, deffen Per-
fönlichkeit und Bedeutung Herr Fabri in einem von
warmer Freundfchaft getragenen fchönen Vorwort den
Lefern darftellt. Die Auswahl ift eine durchaus umfich-
tige gewefen. De la Sauffayc hatte felbft drei Reihen
von je vier Vorträgen 1862/3, relP- 65 und 67,8 gehalten
und veröffentlicht, und diefelben als kirchliche Studien
über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft
bezeichnet. Von diefen find die beiden erften hier wieder-
gegeben. Die erfte behandelt die religiöfen Bewegungen
der Gegenwart nach ihrem Urfprunge, und redet über
Orthodoxie, Rationalismus undSupranaturalismus, Metho- i
dismus und Pietismus, und moderne Theologie. Die
zweite, im Gegenfatz zu Pierfon's ,Richtung und Leben' j

als ,Leben und Richtung' bezeichnet, umfafst die Vorträge
über Tradition und Realität, Gewiffen und heilige
Schrift, Kirche und Staat, und den chriftlichen Beruf.
Die dritte Reihe von Vorträgen, eschatologifchen Inhalts,
ift nach den Wünfchen des Verfaffers weggelaffen. Statt
derfelben bietet der 2. Band uns 7 Vorträge aus ver-
fchiedenen Zeiten (1) über krankhafte Frömmigkeit, 2) der
Proteftantismus als politifches Princip, 3) chriftliches
Leben, 4) chriftliche Wiffenfchaft, 5) die Stellung der
theologifchen Wiffenfchaft in der Encyclopädie der
Wiffenfchaften, 6) die Gebundenheit und die Freiheit der
theologifchen Wiffenfchaft, 7) Rede zur dreihundertjährigen
Erinnerungsfeier der erften Wefelcr Synode im
Jahre 1568).

Es ift nicht diefes Ortes, auf die einzelnen Vorträge
einzugehen. Sie find fämmtlich anziehend und klar ge-
fchrieben, warm und beredt ohne rhetorifch zu fein, und
voll Gedanken und Kenntnifsen, wenn auch nicht gerade
überall tiefgehend. Ihre Spitze ift gegen die ,moderne
kritifche Schule gerichtet, aber ohne die perfönliche
Würde und geiftige Bedeutung ihrer Hauptvertreter an-
zutaften. Ebenfo entfehieden aber fühlt fich der Verfaffer
in der Orthodoxie, im Methodismus, Pietismus und Su-
pranaturalismus nicht zu Haufe. Seine Theologie weift
den Gegenfatz von orthodox und liberal als fchief und
unzureichend zurück. Allen religiöfen Erfcheinungen
in der Gefchichte chriftlichen Geiftes bringt er warme
Sympathie entgegen, einem Schleiermacher, Hegel, Schel-
ling nicht weniger als einem Wesley und Vinet. Perfön-
lich mit warmer Anhänglichkeit der reformirten Kirchen*
lehre zugethan, hält er fie doch nicht für die vollkommene
chriftliche Wahrheit, fondern will das Recht ,modern'
zu fein, fich nicht nehmen laffen. Seine Theologie erbaut
fich auf der Lebensüberzeugung, in dem hiftorifchen
Chriftus der Evangelien die abfolute Wahrheit zu haben,
und gewinnt von da aus Stellung zur Schrift, nicht als äufser-
lich unfehlbarem Buchftaben, fondern als lebendigem
Zeugnifse von Chriftus. Ein übernatürlicher Lcbensprocefs,
der aber deshalb eben der echt menfehliche ift, bildet
als Erfahrungsthatfache die Grundlage des theologifchen
Wiffens, welches deshalb ftets lebendig eine neue ,Ortho-
doxie' fchafft.

Von diefem Standpunkte aus gehalten bieten diefe
Vorträge, obwohl fie den Wahrheitselementen der radi-
calen Kritik nicht gerecht werden, einen intereffanten
Beitrag zu der Auffaffung der kirchlichen Ze it fragen.
Auch die ,moderne Theologie' wird in dem Verfaffer
einen Gegner liebgewinnen, deffen Gleichen eine jede
Wahrheit fuchende und für Widerfpruch empfängliche
Theologie nur aufrichtig wünfchen kann.

Göttingen. H. Schultz.

Schaf fie, Dr. Alb. E. Fr., Bau und Leben des socialen
Körpers. Encyclopädifcher Entwurf einer realen Anatomie
, Phyfiologie und Pfychologie der menfehlichen
Gefellfchaft mit befonderer [Rückficht auf die Volks-
wirthfehaft als focialen Stoffwechfel. Band I. Allgemeiner
Theil. Tübingen 1875, Laupp. (XXIV,
850 S. gr. 8.) M. 14. -

Lilienfeld, Paul v., Gedanken über die Socialwissenschaft
der Zukunft. 2. Theil: Die focialen Gefetze. Mitau
1875, Behre. (XLIV, 464 S. gr. 8.) M. 9. —

Es giebt Bücher, die fich weder für die Praxis des
Lebens noch für die Klärung der theoretifchen Begriffe
irgend als fruchtbringend bewähren und welche doch
durch eine Pulle anregender Gedanken und geiftvoller
Apergüs zum Lefen verlocken. Nur dafs der Lefer —
wenn er nicht als blofser Beobachter oder kritifcher
Feinfchmecker, fondern als ehrlicher Miteffer heifshung-
rig fich an den Tifch zu fetzen die Unvorfichtigkeit began-