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Ausgabe:

1876 Nr. 22

Spalte:

565-568

Autor/Hrsg.:

Heppe, Heinrich

Titel/Untertitel:

Geschichte der quietistischen Mystik in der katholischen Kirche 1876

Rezensent:

Tschackert, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 22.

566

Druck ift fehr correct. Im Texte der 7 Ignatianen hat
Ref. nur einen Fehler gefunden: p. 40, 6 wird es iftüv
heifsen muffen. - Diefer Bericht wird gezeigt haben,
dafs die neue Ausgabe die früheren nicht nur weit hinter
fich läfst, fondern auch erfetzt.

Leipzig. Ad. Harnack.

Heppe, Dr. Heinr., Geschichte der quietistischen Mystik
in der katholischen Kirche. Berlin 1875, Hertz. (XII,
522 S. gr. 8.) M. 9. —

Der Titel ,Gefch. d. quiet. Myftik' läfst ein dog-
mengefchichtliches Werk erwarten; aber darin ficht fich
der Lefer getäufcht; denn der H. Verf. bietet vorwiegend
Erzählungen über quietiftifche Myftiker, und zwar be-
fchäftigen fich von den acht Abfchnitten des Buches
nicht weniger als beinahe fechs mit Frau von Guyon —
nur im vierten ift die Verurtheilung des Molinos einge-
fchoben —, während im erften eine Ueberficht über die
fpanifche Myftik des 16. Jahrhunderts vorangefchickt
und im achten anhangsweife die evangelifchen Quietiften
befprochen werden.

Das Buch foll ferner eine beftimmte Art der Myftik
behandeln; man darf alfo mit Recht eine Motivirung des
Thema fordern; allein diefe einleitende Aufgabe ift nicht
gelöft. Zwar erkennt der H. Verf. in der Myftik zwei
Hauptrichtungen an, eine fpeculative und eine praktifche,
und fubfumirt unter letztere die quietiftifche Myftik (S. 3),
hält aber nicht für nöthig, diefe als Richtung genau zu
beftimmen, fo dafs der Lefer trotz der 522 Seiten nicht
erkennt, wodurch fie fich von der nicht-quietiftifchen
Myftik unterfcheidet.

Der H. Verf. beginnt feine Darftellung mit dem
fpanifchen Quietismus des 16. Jahrhunderts; allein gab
es denn in der ,katholifchen' Kirche des Mittelalters
keine quietiftifche Myftik? (— die beiden S. 5 u. 6 erwähnten
Frauen und die Notizen auf S. 8 genügen
nicht —) Oder verfteht der H. Verf. unter der ,katho-
lifchen' Kirche die .nachreformatorifche'r Eine Antwort
fucht man in dem Buche vergebens.

Der Hiftoriker hat ein doppeltes Intereffe an der
tiefgehenden quietiftifchen Bewegung des 17. Jahrhunderts;
es gilt erftens die Gedankenwelt ihrer Leiter kennen zu
lernen und zweitens den Werth diefer Bewegung in der
Gefchichtc des chriftlichen Lebens zu beurtheilen. Es
kann nun zunächft im dogmcngefchichtlichen Intereffe
nicht darauf ankommen, alle unbedeutenden Quietiften
zu nennen oder gar eines jeden Weltanfchauung, falls
er eine gehabt hat, und wäre es auch nur in ihren Grundzügen
zu zeichnen; der Dogmenhiftoriker will das Auftauchen
des quietiftifchen Princips, feine Entfaltung und
fein Abfterben erkennen; die Darftellung gerade diefes
Proceffes hätte doch dem H. Verf. als die Hauptaufgabe
für eine ,Gefchichte' diefer Myftik vorfchweben müffen.
Nach feinem eignen Urtheil (S. 125. 126) wiederholt fich
bei den fpanifchen Quietiften von Petrus von Alcantara
bis auf Molinos im allgemeinen diefelbe Denkweifc;
dennoch müffen wir eine ganze Reihe von Darftellungen
derfelben lefen, während wichtige Abfchnitte, wie der
franzöfifche Quietismus unter Franz I, (vgl. Ztfch. f. d.
h. Th. 1850. 1.) und myftifche Charaktergeftalten wie
Angelus Silefius, Antoinette Bourignon übergangen find.
(Letztere wird nur im Anhang über die evang. Myftik S. 502
genannt.) So dankbar man dem H. Verf. für die weith-
vollcn Nachrichten über die fpanifchen Quietiften und
für die Belege aus ihren Schriften fein mufs, die dogmen-
gefchichtliche Erkenntnifs des Quietismus wird doch
nach wie vor aus Molinos als Hauptquelle zu fchöpfen
haben.

Die Löfung diefer Aufgabe ift unvollftändig, wenn
der Hiftoriker mit der Darftellung keine kritifche Arbeit
verbindet; der H. Verf. hat über dem weitläufigen Rc-

j feriren der vielen unfruchtbaren Gedanken der Myftiker
die Beurtheilung derfelben zu fehr unterlaffen; die Unvollziehbarkeit
der quietiftifchen Hauptbegriffe, ,paffive
Contemplation, unintereffirte Liebe' wird nicht nachge-
wiefen, das ,paffive Gebet' nicht auf feine Schriftgemäfs-

i heit hin geprüft; der ,reine' Glaube der Quietiften aber,
welcher nichts denkt, ift ein logifch ebenfo unvollziehbarer
Begriff, wie die ,reine' Liebe, die nichts hofft.
(Die allgemeinen Bemerkungen des H. Verf. gegen
Schlufs des Buches S. 488 leiden in diefer Hinficht viel
zu wenig.)

Nach der Leetüre des H.'fchen Buches tritt allerdings
die Frage mächtig an uns heran, ob es überhaupt
eine Gefchichte der quietiflifchen Myftik giebt. Wiederholt
fich bei ihren Vertretern faft derfelbe Procefs, nach
welchem in der Heilsordnung flatt der ethifchen Gemein-
fchaft mit Gott eine phyfifche erftrebt wird, giebt es
mitbin in der quietiftifchen Gedankenarbeit keinen Fort-
fchritt, dann auch keine Gefchichte diefer Myftik, höchftens
Tableaux von Myftikern.

Die Confequenzen des Quietismus führen nicht fowohl
j in die Zelle des Mönches, als vielmehr in die Klaufe
j des Einfiedlers; daher hat die hier behandelte Geiftes-
richtung zweitens Wichtigkeit für die Gefchichte des
! chriftlichen Lebens. Ohne Sinn für die Aufgaben des
Berufes machte fich jeder diefer quietiftifchen Individua-
liften mit feinem Chriftenthum auch feine eigne Lebensaufgabe
auf eigne Hand zurecht. Der H. Verf. hat uns
fein Urtheil über den Werth der quietiftifchen Ethik
wieder vorenthalten; nur dafs ihre Religiofität fich im
Gegenfatz zur Hierarchie und zum Ordenswefen bewegte,
wird (S. 106 ff.) im Intereffe des gegenwärtigen Kampfes
des Staates mit dem Ultramontanismus hervorgehoben.
Es kann felbftverftändlich auch hier wieder nicht die
Aufgabe fein, alle kleinen Züge in dem meift verborgenen
Leben diefer ,Stillen im Lande' zu fchildern;
mufs fich auch der Forfcher durch das Detail durcharbeiten
, um eine auf hiftorifchen Zeugnifsen beruhende
Gefammtanfchauung zu gewinnen, fo foll er doch die
unwichtigen Kleinigkeiten für fich behalten und die
heute mit Leetüre fchon geradezu überbürdeten Fachge-
noffen nicht damit beläftigen. Der H. Verf. erzählt uns
mit behaglicher Breite neben den gefchichtlich bedeut-
famen allerlei unwichtige Züge aus dem Leben der Frau
von. Guyon und ihrer Verwandten; feitenlang müffen
wir die kleinlichllen Nörgeleien miterleben, durch die
man die wunderliche Heilige geplagt hat, welche aber
j gar nicht in eine .Gefchichte der quiet. Myftik' gehören.
| Ob Frau von Guyon .nicht in der Diligencc, fondern zu
I Waffer' eine heimliche Abreife bcwerkftelligt (S. 1951,
oder ob Marfay ,in einer Kutfche' fährt (S. 511) und
ähnliches ift in dem bezüglichen Zufammenhange ganz
gleichgültig.

Ref. hat fich oft gefragt, für wen eigentlich diefes
Buch gefchrieben fei. Wer fich an den Leiden jener
frommen Leute erbauen will, findet ja in den drei
I Quartanten .Lebensführungen heiliger Seelen' von Ter-
fteegen Stoff genug, wobei ihm noch dazu die religiöfen
Betrachtungen des ihnen felbft angehörenden Heraus-
gebers, ftatt der hier ftörenden Ausfälle gegen den Ultra-
montanismus förderlich fein können. Und wozu jetzt
noch eine fo ermüdende Darfteilung der Kreuz - und
| Querzüge der EYau von Guyon, nachdem wir erftens
ihre breite Selbftbiographie in drei Bänden franzöfifch
1720 und deutfeh 1826 bereits haben, in welcher die
hier mitgetheilten Bagatellen alle gefchildert find, noch
dazu mit dem Reiz des Selbfterlebten, und nachdem
zweitens der H. Verf., was er felbft, foweit ich mich
I erinnere, nicht einmal erwähnt, uns ja mit einer Abhand-
[ lung über denfelben Gegenftand (Ztfchr. f. h. Th 1874.
! I. H.) befchenkt hat! Ift diefelbe ein Auszug aus dem
l im Manufcript bereits ziemlich vollendet gewefenen
Buche, fo darf man fich wundern, warum der H. Verf.