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Ausgabe: | 1876 Nr. 21 |
Spalte: | 547-548 |
Autor/Hrsg.: | Gass, W. |
Titel/Untertitel: | Optimismus und Pessimismus. Der Gang der christlichen Welt- und Lebensansicht 1876 |
Rezensent: | Pfleiderer, Edmund |
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Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 21.
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(8-. 138 —150) eine Reihe von Glaubensbekenntnifsen
urkundlich mitgetheilt und durch den Druck ihre ver-
fchiedenen Beflandtheile und dadurch ihr fehr compli-
cirtes Verwandtfchaftsverhältnifs unmittelbar anfchaulich
gemacht hat.
Leipzig. Ad. Harnack.
Gass, Dr. W., Optimismus und Pessimismus. Der Gang
der chrifüichen Welt- und Lebensanficht. Berlin 1876,
G. Reimer. (X, 254 S. gr. 8.) M. 4. —
Was wir zu verwandten Schriften an anderem
Ort fchon mehrfach bemerkten, können wir hier nur
wiederholen: der Verf. diefer fachgelehrten, umfichtigen
und wohlthuend ernften Arbeit hat ganz Recht, wenn
er es für werthvoll hält, den theilweife journaliftifchen
Tagesverhandlungen über das fragliche Thema einen
hiftorifchen Hintergrund zu geben. Andere berückfich-
tigen hiebei in weiterem oder engerem Rahmen vornehmlich
den Gang und Verlauf der profanen Welt-
ftimmung, während G. die Wandelungen der chriftlich-
theologifchen Welt- und Lebensanficht zum Centrum
macht, ohne freilich im weiteren Fortgang und beim Erreichen
der Neuzeit diefenPlan wirklich ftreng einhalten zu
können. Vielleicht wäre es im Intereffe gröfserer Gleichartigkeit
und conciferer Principmäfsigkeit der' Darftellung
doch beffer gewefen, wenn er dies gethan und fich mehr
auf fein fpecielles Problem befchränkt hätte; denn fpeciell
können wir es auch neben feiner weitgreifenden Verflochtenheit
in die Gefammtgefchichte nicht ohne Grund
nennen. Optimismus und Peffimismus dürften nämlich
von Haus aus ein anderes Geficht haben, jenachdem fie
auf profanem oder ethifch-religiöfem Boden erwachfen.
Prononcirte, fcharfmarkirte Züge zeigen beide wohl nur
auf erfterem, während das Dominiren der Frömmigkeit
und des fittlichen Ernftes, des transcendenten Pols am
Beginn und Ziel der Entwicklung von Anfang an fozu-
fagen glättendes Oel auf die hochgehenden Wellen derblofs
natürlichen Stimmung mit deren Ebbe und Fluth giefst,
ohne dafs leichtere Schwankungen damit ausgefchloffen
wären. Das Meer in der relativ gefchloffenen Hafenbucht
präfentirt fich anders, als auf der weithin offenen fchutz-
lofen See. Eine gewiffe Verfchwommenheit wird deshalb
kaum vermeidlich fein, wenn man das Nach- und Durchzittern
jener Extreme gerade im Chriftenthum und feiner
Gefchichte verfolgt. Keineswegs foll aber damit Recht
und Werth auch diefer Specialbetrachtung geleugnet
werden, um fo weniger, als fchon die principielle und
uranfängliche Weltanfchauung des Chriftenthums in dem
modernen Streit fo vielfach als Zeuge, und zwar gar
häufig in abftracter und verftändnifslofer Weife mit in
Anfpruch genommen wird. Aufserdem kommen auch
Paffagen im Flufs der Kirchengefchichte vor, auf welche
aus tieferen Gründen das oben Gefagte nicht pafst. Ich
meine z. B. die höchftintereffante Ausführung des Verf.
über die Stimmung des päpftlich-culminirenden Mittelalters
, vertreten von Innocenz III. Hier möchte das
eminente Hervortreten des gefteigertften Peffimismus eben
ein bedeutfamer Hinweis auf den gänzlichen Mangel
an lebenskräftigem Chriftenthum fein.
Der Verf., welcher zum Schlufs, freilich ungern und
mit einem vielleicht gar zu ariftokratifchen Degoüt auch
auf den modernen Peffimismus Schopenhauer's und Hart-
mann's fich einläfst, formulirt die Ergebnifse feiner
religions- und culturgefchichtlichen Wanderung durch die
Reihe der Jahrhunderte in zehn Thefen. Diefelben find
theils feinfinnig herausgefchaute Gefchichtsgefetze, be-
fonders die zweite, wornach jede Erweiterung der Weltanficht
Befeftigung des fittlichen Standpunkts fordert'
(vgl. dazu S. 73. S. 104 und befonders 125). Theils läfst
der Verf. in ihnen die Gehchtspunkte der fachlichen
Kritik fcharf heraustreten, welche im Verlauf neben dem
I gefchichtlichen Detail weniger hervorftechen. Mit ihrem
gediegenmafsvollen, idealethifchen Arbeitsoptimismus
ift Referent Wort für Wort einverftanden und mufs es
wohl fein; denn diefelben decken fich, ihrerfeits geftützt
auf den fehr dankenswerthen hiftorifchen Gang, beinahe
vollftändig mit den Gefichtspunkten, welche ihn bei feinem
eigenen Schriftchen fpeciell über den modernen Peffimismus
als fyftematifch mafsgebende leiteten. Plerzlich
gerne will er daher dem fachmäfsig auftretenden Buch
von G. die Miffion überlaffen, ganz identifchen Sinnes
[ in Kreifen zu wirken, wohin fein leichter gefchürztes
Wort nicht Zutritt finden konnte, fondern (vielleicht als
journaliftifcher Plebejer?) von links und rechts Abweifung
fand. Freilich beharre ich gegenüber einer minder prak-
tifchen wiffenfehaftlichen Fachariftokratie dennoch bei der
früher in diefen Blättern fchon aufgeftellten Behauptung
pro domo, dafs es daneben fein ebenfo gutes wo nicht
noch befferes Recht hat, die Tagesmeinung mit klar-
j bewufster Condescendenz in der Tageskleidung und
mit Tageswaffen zu attakiren.
Kiel. E. Pfleiderer.
Ebrard, Dr. Aug., E. v. Hartmann's Philosophie des U11-
bewussten dargeltellt und beurtheilt. Gütersloh 1876,
Bertelsmann. (84 S. 8.) M. 1. —
Die meiften Besprechungen und Bekämpfungen
Hartmann's jedenfalls aus der neueren Zeit pflegen fleh
mit der praktifchen Seite feiner Philofophie zu be-
fchäftigen, wie fle als Peffimismus mitten ins Leben ein-
fchlägt und dadurch wohl auch vorzugsweife ihre weite
Verbreitung gefunden hat. Die vorliegende Schrift da-
! gegen nimmt wieder einmal, eben deshalb in ftreng-
w■iffenfehaftlichem Gewand, die damit verknüpfte Meta-
phyfik des Unbewufsten zum Gegenftand, während
fle die pefflmiftifche Confequenz nur fehr nebenher und
zum Schlufs ftreift. Sie will weder ein blofses Referat,
I noch auch eine Kritik im gewöhnlichen Sinn des Worts,
d. h. im Sinne der reinen Abfertigung fein, fondern geht,
j wie wir glauben mit vollem Recht, von der Ueber-
zeugung aus, dafs ,wir es uns und der Wahrheit fchuldig
find, an uns felber die Frage zu Hellen, ob und inwiefern
in der Philofophie des Unbewufsten ein Wahrheitsgehalt
an uns herantrete, welcher unfere (chriftliche) Weltanfchauung
etwa zu erfchüttern vermöge'. Zwei Hauptpunkte
find es nun, auf welche fleh des Verf.'s eindringende
Unterfuchung wirft, einmal die Frage der
unbewufsten Zweckmäfsigkeit oder nach der peffimifti-
fchen Schulfprache die Seite der Vorftellung, refp. Idee,
und fürs Andere das Wefen des fogenannten Willens
theils an fleh, theils in feiner eigentümlichen Combina-
tion mit der Idee. In erftercr Hinficht wird an Hartmann
als Bekämpfer eines materialiftifchen Naturalismus das
lebhafte Eintreten für die unverkennbare Thatfache der
allverbreiteten Teleologie zwar fehr gerühmt, aber der
Schlufs, den er aus diefer Prämiffe auf ein unbe-
j wufstes Zweckprincip zieht, als Uebereilung nicht blofs,
| fondern geradezu als Undenkbarkeit abgewiefen. Wenn
■ im Naturgebiet, einfchliefslich unferer eigenen animali-
j fchen Seite unleugbare Zweckmäfsigkeit vorliegt, bei
welcher wir allerdings keinerlei Selbfldenken oder be-
wufstes Zweckfetzen der betreffenden Gebilde und Organe
annehmen können, fo haben wir diefen Thatbefland vor-
fichtiger Weife nur dahin zu formuliren, dafs das eine
gefetzte, infofern alfo paffiv e Zweckthätigkeit fei. Dies
Passii'um aber, das fchon im Ausdruck Jnftinct' liegt, kann
unmöglich fchon das letzte Wort fein, fondern weift zurück
auf ein fetzendes Activum (fozf. ein Instingucns). Das
aber müfste offenbar ein, von der uns bisher noch nicht
definitiv befriedigenden Natur Verfchiedenes oder alfo
ein Gciftiges fein, in deffen Wefen das Activ-Initiativ-
. fein gegenüber der reeeptiven Naturpafflvität läge. Nun