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Ausgabe:

1876 Nr. 18

Spalte:

469-471

Autor/Hrsg.:

Baur, August

Titel/Untertitel:

Luthers Schrift: von der Freiheit eines Christenmenschen (de libertate christiana) nach Entwicklung, Inhalt und Bedeutung dargestellt und entwickelt 1876

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 18.

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aufs vortheilhaftefte von der gewöhnlichen Legende evan- j
gelifcher Kirchengefchichtfchreibung unterfcheidet.

Ich läugne nicht, dafs ich anfangs Zweifel gehabt !
habe, ob es dem unvergefslichen Manne gegenüber gut j
gethan fei, eine äufserlich fo unvollkommene Arbeit zu
veröffentlichen. Aber in fteigendem Mafse bin ich dahin
gekommen, dem Herausgeber beizupflichten, und denke,
es werden viele mit mir ihm dankbar fein.

Tübingen. C. Weizfäckcr.

Draeseke, J., Quaestionum Nazianzenarum speeimen. (Programm
der höhern Bürgcrfchulc zu Wandsbeck.)
Wandsbeck 1876, Puvogel.

In recht gutem Latein erörtert der Verf. die Trinitäts-
lehre des Nazianzeners, fowohl hinfichtlich des Verhält-
nifses von Wefen und Perfon, Einheit und Dreiheit, als
hinfichtlich der Faffung der drei Perfonen und ihrer
Eigenthümlichkeiten, an einer Anzahl Hauptftcllen. Ein
wefentlicher Neugewinn ift allerdings daraus nicht zu erheben
, nur fei darauf hingewiefen, dafs der Verf. p. IX
mit Beziehung auf Ullmann's Bemerkung (Greg. v. Naz.
S. 347 — nicht 241, wie Draefeke angiebt —), die innere
Notwendigkeit der Entfaltung der Einheit zu einer
Dreiheit, und gerade nur zu einer folchen, werde
von Greg, nicht weiter begründet, auf die Stelle orat. XIII
(nach der altern Zählung; nach der Benedict. Ausg. v.
Clemencet orat. XXIII c. 8) hinweift, welche allerdings
eine Andeutung einer folchen freilich ganz formaliftifchen
Begründung giebt. Wunderlich ift S. XI der entrüftete
Widcrfpruch gegen die unleugbare Thatfache, dafs in
der (einfeitigen) Zurückführung von Sohn und Geift auf
den Vater als die du%lj ein unüberwundner Reft von
Subordinatianismus liege.

Kiel. Möller.

Baur, Pfr. Aug., Luthers Schrift: von der Freiheit eines
Christenmenschen [de libertate christiand] nach Ent-
ftehung, Inhalt und Bedeutung dargeftellt und entwickelt
. Ein Beitrag zum Verftändnifs Luthers und
des lutherifchen Proteftantismus. Zürich 1876, Schult-
hefs. (VIII, 146 S. gr. 8.) M. 2. 80.

Baur hat die Abficht, in der oben bezeichneten
Schrift Luther's Tractat de libertate christiana als das
rcligiöfe Programm der Reformation nachzuweifen, als
das Gegenftück der Schrift ,an den chriftlichen Adel',
welche anerkanntermafsen das Programm für die nationale
Seite der Reformation ift. Er trifft fich in diefer
Schätzung jenes Tractats mit Ritfehl, deffen Ausführungen
über die Bedeutung desfelben er aber erft zu Geficht
bekam, als er fein Manufcript bereits abgefchloffen hatte.
Löft Baur feine Aufgabe?

Er erörtert zunächft die Stellung des Tractates
innerhalb der reformatorifchen Bewegung, dann die Ent-
ftehung der Schrift, dann den Gedankengang derfelben.
Das Alles ift klar, verftändig, im Wefentlichen zutreffend.
Aber nun begegnen wir einer merkwürdigen Idee. Luther
fagt bekanntlich in dem Briefe an Leo X, deffen Beilage
unfer Tractat ift, fein Schriftchen bezeichne, recht ver-
ftanden, die Summe chriftlichen Lebens. Baur meint
S. 36 im Rückblick auf die Darlegung des Gedankenganges
, es beftätige fich, dafs Luther eine Summe des
chriftlichen Lebens gebe, ,d. h. eine kurze zufammen-
hängende Darfteilung der chriftlichen Glaubens- und
Sittenlehre'. Ift das wirklich die richtige Deutung unteres
Tractats?

Ich geftehe, dafs ich geradezu nicht recht begreife,
wie man angefichts des Gedankengangs des Tractats
auf diefe Meinung kommen kann. Der Gedankengang j
zeigt doch deutlich, das es Luther nur auf zwei Ideen, auf

die Idee der Freiheit des Chriften im Glauben und feiner
Gebundenheit durch die Liebe ankommt. Alles was die
Schrift an Ausführungen über Gott, über Chriftus, über
das Wefen des Menfchen bietet, ift Hülfslinie, foll jene
beiden Ideen vorbereiten, belegen. Alfo die summa
vitae christianae compendio congesta kann unfer Tractat
nur in dem Sinne fein wollen, dafs Luther der Meinung
ift, jene beiden Ideen feien die Centraiideen des Chriften-
thums, diejenigen Ideen, welche man nur zugleich mit
dem ganzen echten Evangelium verftehen und fich
praktifch aneignen kann.

Darum ift's noch nicht werthlos, dafs Baur S. 36 ff.
unter dem Titel ,Lehrbegriff des Tractats' die einzelnen
Ideen desfelben möglichft vollzählig herausfehält und
eingehend darlegt. Den Umkreis derfelben feftzuftellen,
ift für eine allfeitige Würdigung unferes Tractats eine
Aufgabe, die fich immerhin ergiebt, auch wenn man feine
Abficht nicht darin erkennt, das Ganze der einzelnen
proteftantifchen Anfchauungen im Abrifs vorzuführen.
Sind die beiden Ideen, auf die es Luther ankommt, analy-
firt und in ihrem Werthc als reformatorifche Erkenntnifse
nachgewiefen, fo ift es gewifs von Intereffe, im ganzen
Umfang die Ideen feftzuftellen, die in unferem Tractate
verwendet find, die als ausgefprochene Anfchauung oder
als fülle Vorausfetzung darin fich geltend machen. Man
kann fich dann z. B. überzeugen, dafs Luther hier
durchaus nicht von der Myftik beeinflufst ift, wie man
noch oft genug hören mufs, dafs feine religiöfen Erkenntnifse
fich fpeeififeh unterfcheiden von den Intereffen
und Ideen der Myftik.

Will man aber den ,Lehrbegriff' des Tractats feft-
ftellen, fo mufs man ein Doppeltes beachten. Nämlich
zunächft, dafs Luther in unferem Tractat keine Theolo-
gumene bietet. Es ift eine Erkenntnifs, die fich einem
auf jeder Seite der Luther'fchen Schriften aufdrängt, dafs
Luther theologifch weder intereffirt, noch befähigt
gewefen ift. Zwar hat er einen ziemlich vollftändigen
und zufammenhängenden Entwurf von Weltanfchauung
— aber derfelbe ift durchweg rein religiös. Die begrifflich
- fyftematifche Verknüpfung feiner Ideen hat er
im Ganzen nie — im Einzelnen (Lehre vom unfreien
Willen, von der doppelten Prädcftination, vom Abendmahl
) fehr unglücklich verflicht. Die Schrift de lib. christ.
ift darum fo wohl gelungen, weil Luther hier nur erbaulich
-praktifch redet. Baur weifs, dafs die Schrift
diefen Charakter hat (Vorrede). Um fo auffälliger ift
mir, dafs er in der Ausführung des Lehrbegriffs fo wenig
Bewufstfein davon zeigt, dafs er es mit religiöfen Ideen,
nicht mit theologifchen Lehren zu thun hat. Seine Arbeit
ift fo treu und forgfältig, dafs die Befchreibung der
einzelnen Ideen Luther's trotzdem meift richtig ausfällt.
Aber fie haben nirgends die richtige Beleuchtung. Und
es ift kein geringer Fehler, dafs wer die Schrift lieft,
wenigftens in keiner Weife davor gewarnt und gefchützt
wird, Luther's einzelne Lehren in unferem Tractat für
theologifch-begrifflich zu halten.

Daneben darf man den Blick nicht zu ausfchlicfslich
auf unferem Tractat ruhen laffen. Er ift ja nicht das einzige
Document von Luther's Hand. Warum hier ohne Noth
fich eine Lage fchaffen, in der wir etwa beim Neuen
Teftament leider durch die Natur der Dinge uns befinden,
nämlich, dafs man Gefahr läuft, die verdeckteren Anfchauungen
mifszuverftehen, weil es an der Controlle
durch deutlichere, abfichtlichere Ausführungen fehlt?
Z. B. hätte Baur's Darlegung der Rechtfertigungsichre
Luther's, gerade auch wie fie in unferem Tractate fich
findet, richtiger ausfallen müffen, wenn er im Auge behalten
, was fo reichlich um denfclben herum liegt an
Ausführungen über die justificatio. Für Luther fällt Rechtfertigung
und Wiedergeburt fachlich nicht zufammen;
vielmehr kennt er fehr gut den religiöfen Werth, den
es hat, an die Rechtfertigung vor und im Unterfchiede
von der Wiedergeburt zu glauben, wenn er auch na-