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Ausgabe:

1876 Nr. 18

Spalte:

461-464

Autor/Hrsg.:

Goldziher, Ignaz

Titel/Untertitel:

Der Mythos bei den Hebräern und seine geschichtliche Entwickelung. Untersuchungen zur Mythologie und Religionswissenschaft 1876

Rezensent:

Baudissin, Wolf Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 18.

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Der Verf. fordert aber, man folle z. B. die einfeitige Auffallung
des Gottvertrauens bei Jefajas offen rügen, foll j
anerkennen, dafs im Gefetze Vieles »unzweifelhaft verkehrt
, unverftändig, fchädlich' war, foll im Sabbathsjahr
einen ftarken Mifsgriff fehen, der nur zur Verarmung
führen konnte, im Tempelvorhof mehr eine Metzgerftätte ■
(slaclitcrswerkplaats), denn einen religiöfen Ort, in der |
Befchneidung einen fremden Ritus aus einer andern Re- j
ligion. Sollen derartige Urtheile in ihrer vollen Schroff- !
neit etwa den Mafsftab bilden für die wahre wiffenfehaft-
liche Ünbefangenheit? Der Verf. fcheint hier eine Klippe ]
zu überfehen; ganz ähnliche Urtheile finden wir auch
als Aeufserungen jener philiftröfen Bravour, die ihre Frei- |
heit vom Kinder- und Köhlerglauben draftifch beweifen !
will, oder des vorlauten Dünkels, der gern in den Staub
zieht, was bisher für hoch und heilig galt. Der Verf. j
ift davon weit entfernt; er meint im Grunde, der Forfcher j
dürfe fich eines Urtheils nicht enthalten über die Höhenlage
, die einer religiöfen Idee, einer fittlichen Forderung,
einem Ritus zuzuweifen ift. Und darin freilich ftimmen
wir völlig bei, halten aber Erkenntnifs und Darltellung
des wirklichen Sachverhalts für viel wichtiger und er- j
fpriefslicher, da in all dies Rügen oder Bewundern viel
zu viel individuelle Mafsftäbe fich einzudrängen pflegen. |

Tübingen. L. Dieftel.

Goldziher, Dr. Ignaz, Der Mythos bei den Hebräern und

feine gefchichtliche Entwickclung. Untcrfuchungen zur
Mythologie und Religionswiffenfchaft. Leipzig 1876,
Brockhaus. (XXXII, 402 S. gr. 8.) M. 10,' —

Veranlaffung diefes Buches ift hauptfächlich dieThefe
Renan's: ,Die Semiten haben niemals eine Mythologie
gehabt'. Sic zu widerlegen ift des Verf. Abficht. An
den Hebräern will er nachweifen, dafs die Semiten fo
wenig als irgend ein anderes Volk der ,Mythosfähigkeit'
entbehren (S. 3 ff.). Nicht Vertrauen erweckend ift die }
von vornherein gegebene Verficherung, dafs dem Verf.
als Vorgänger und Vorbild Steinthal gilt (S. XXII),
deffen Namen wir denn auch immer wieder mit einer
reichen Sammlung von ehrenden Epitheten begegnen,
noch weniger, dafs der Verf. in feinem Plane beftärkt
wurde durch die »begeifterten Worte' des ,geiftvollen'
A. de Gubernatis (S. XXIII), für deffen Zoological
Mythology uns die Bezeichnung als ein »epochemachendes
Werk' (S. 188) nicht erfpart bleibt.

Nach allgemeinen Gedanken ,Uebcr hebr. Mythol.'
'S. 1—19) werden die »Quellen der hebr. Mythol.' be-
fprochen (S. 20—44): dahin werden gerechnet die Ge-
fchichtc der Patriarchen und der Richter, aber auch die
wirklich hiftorifchen Berichte, fofern hier gefchichtliche
Geftalten, wie z. B. David, mit mythifchcr Gewandung
bekleidet erfcheinen. Eine der ,zuverläffigften' Quellen
ift ferner die Sprache 0 fic wäre doch wohl für Goldz.
die einzige; denn dafs Patriarchen- und Richtergefchichte
Mythen im Sinne des Verf., d. h. lediglich Darftellun-
gen von Naturvorgängen, feien, liefse fich nur aus den
Namen entnehmen); z. B. aus Desitin früh morgens
einer Befchäftigung nachgehen' ift zu erleben, dafs QP«j
einftmals die Bedeutung ,Morgen' gehabt haben mufs (?);
alfo (?) befagt die Gefchichte von der Entführung (?) der |
Dina durch Sichern (naa; nichts Anderes als: die Morgcn-
röthe entführt die Sonne (S. 29 f.). Weiter ift aus den
. bildlichen Redeweifen der fpätcren Zeit mythologifches
Material zu entnehmen; wennjef. 14, 24 (1. 23) von dem
,Ausfegen mit dem Kehrbefen der Vernichtung' die Rede
ift, fo entlehnte der Prophet dies Bild nicht dem häuslichen
Leben, fondern es lebt darin die in deutfehen (!)
Volksfagen vorkommende Vorftellung von den ,Peft-
jungfrauen' mit Kehrbefen in der Hand fort (S. 32;. Das
Land ,wo Milch und Honig fliefst' heifst Kanaan nicht
einfach von feiner Fruchtbarkeit, fondern von der Be- |

Zeichnung des Mondes als Biene (?), der Sonne als Kuh,
alfo nach dem Mythos von einem Sonnen- [nicht auch
Mond- ?] Lande (S. 34). Eine letzte Quelle für die
Mythenforfchung ift die Haggada, in welcher fich vieles
alte Gut erhalten hat. Wenn z. B. im Targum Goliath
der Sohn Simfon's (= Sonne) genannt wird, fo ficht man
daraus: jener ift die Nacht, welche aus dem Tage hervorgeht
; alfo eine Stütze für des Verf. Erklärung: ,David,
der röthliche Held mit gutem Geficht befiegt den Goliath
durch Steinwürfe' = ,der Sonnenheld Lroth, gutes Geficht
= Sonne] wirft mit Steinen nach dem Gewitterungeheuer
[Gewitter = Nacht]' (S. 36, vgl. S. 127 f.; die
Angabe des Targum ift doch wohl auf eine Combination
des Starken jSimfon] mit dem Riefen Goliath zurückzuführen
). Aber man mufs, belehrt uns der Verf., fehr
vorfichtig fein in Benützung der Plaggada; fo wird hier
einmal Jakob ,Sonne' genannt; Goldz. aber weifs, dafs
er die Nacht ift (S. 38 f.), folglich gilt hier die Haggada
nicht, fondern nur da, wo fie gerade bequem ift.

Ein 3. Cap. ,Die Methode der hebr. Mythosförfchung'
(S. 45—60; die Ueberfchrift ftimmt nicht recht zum Inhalt
) will zunächft ausführen, wie urfprüngliche Poly-
onymie der Sprache, wenn fie durch das Haftenbleiben
der Bedeutung an einem einzigen Worte erftirbt, doch
noch fortlebt in Eigennamen, zu welchen dann die bei
Seite gelegten Appellativa umgewandelt werden; was
demnach urfprünglich Ausfage von Naturerfcheinungen
war, das wird auf diefer fpäteren Stufe zur Gefchichte
von Perfonen (S. 45 — 50). Die Bemerkung im Allgemeinen
zugegeben, mufs dann nur das urfprüngliche Appellativum
in dem Eigennamen noch deutlich zu erkennen fein,
ehe man diefen für ein folches erklärt. Wer aufser Goldz.
konnte ahnen, dafs Ifaak ,er lacht' einftmals ein Name
der Sonne war, welche doch zum Glück nicht allein in
der Welt mit dem Lachen vertraut ift! — Aus der fchon
oft gemachten Beobachtung, dafs wie in andern, fo auch
in den femitifchen Sprachen die Benennungen für die
Zeit vom Räume entlehnt find — was darauf beruht,
dafs wir die zeitliche Bewegung überhaupt nach den
Veränderungen im Räume beftimmen — wird die kühne
Folgerung gezogen, dafs ,die Raumesvorftellung... in der
Gefchichte älter ift als die Zeitvorftellung' (S. 51), es
alfo eine Periode gegeben habe, wo die Menfchen ohne
Zeitvorftellung lebten, und dafs demnach die Mythen,
in welchen die Bewegung im Räume ausgedrückt fei
(z. B. Jcphta ,der Eröffner'j älter feien als die, in welchen
die zeitliche Bewegung zum Ausdruck komme (z. B.
Jakob ,der Folgende' S. 50—56). — An dem Beifpiel von
der Opferung des Ifaak foll zuletzt gezeigt werden, wie
eine urfprünglich mythologifche Erzählung (der Nachthimmel
tödtet die Sonne [? !]) unter fpäteren Einfiüffen
eine ganz veränderte (ethifche) Bedeutung annimmt
(S. 56-60).

Cap. 4: ,Nomadismus und Ackerbau' (S. 61 — 106)
führt aus, dafs jene mythologifchen Vorftellungen, welche
auf der Lebensweife der Nomaden beruhen, die älteren
find. Was hier über die Zeitrechnung nach Nächten als
aus dem Nomadenleben hervorgehend (S. 74 ff.) und
über Priorität des Mondcultus vor dem Sonnencultus
als eben darauf beruhend (S. 90 f.) gefagt ift, gehört zu
den wenigen Partieen, aus welchen Ref. — ohne der
Ausführung durchaus beißimmen zu können — Pofitives
gelernt hat.

Den Mittelpunkt des Buches bildet Cap. 5: ,Die
hervorragendßen Geßalten der hebräifchen Mythologie'
fS. 107—241); hier follen wir endlich erfahren, welches
nun eigentlich die unbekannte Gröfse fei, von der bisher
nur vorbereitend und verheifsend geredet wurde
Einige Bcifpiclc mögen diefe Goldzihcr'fche Mythologie
charakterifiren. Jephta ,der Eröffner' ift die Sonne, welche
ihre Tochter, die Morgenröthc, tödtet (S. 113 ff.). Weshalb
? Weil Damascius den Namen Khryforos [vielmehr
Xovao>(}(')?; die Form XqvooSq ift eine LA. bei Philo

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