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Ausgabe: | 1876 Nr. 17 |
Spalte: | 448-449 |
Autor/Hrsg.: | Leimbach, Joh. Heinr. |
Titel/Untertitel: | Aug. Friedr. Chr. Vilmar nach seinem Leben und Wirken dargestellt 1876 |
Rezensent: | Meyer, Ernst Julius |
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Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 17.
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deres gegen die Chriften gerichtetes kaiferliches Edict
annimmt, als das des Trajan, fo widerfpricht dem das
ausdrückliche Zeugnifs des Ulpian bei Lactanz, welches
in unterem Werke überhaupt ganz überfehen wird. Mit
jener Tendenz ferner mag man fich allein die ernfter
Veranlaffung entbehrenden und nur durch willkürlich
der Quelle aufgedrängte Annahmen durchzuführende
Bemühung des Verfaffers erklären, das Verhalten des
Marc Aurel in der gallifchen Verfolgung fo paffiv er-
fcheinen zu laffen (S. 388). Auch hätte, damit die Lage
der Chriften im römifchen Reiche im zweiten Jahrhundert
nicht allzugünftig erfchiene, noch deutlicher als für diefe
Periode charakteriftifch die Aufgeregtheit der Leidenfchaft
des Volks gegen die Chriften hervorgehoben werden
follen, welche die Staatsgewalt zwar wohl in Schranken
hielt, aber doch zugleich unterftützte. Der Beachtung
möchten wir übrigens immerhin die Bedenken empfehlen,
welche der Verfaffer gegen den Brief des Plinius an
Trajan erhebt (S. 210 ff.), fo fehr wir auch billigen
müffen, dafs der Verfaffer diefe Bedenken fchlicfslich
felbft fallen gelaffen hat. Mit Recht jedenfalls ift er
ernfter mit dem Chriftenrefcript des Hadrian ins Gericht
gegangen (S. 261 ff.), und feine Kritik desfelben hat
neben der ihm unbekannt gebliebenen von Keim, weil
fie nicht nur felbftändig, fondern auch vielfeitiger begründet
ift, noch immer Werth.
Mit deutfehen Arbeiten feheint Aube überhaupt fich
fehr wenig bekannt gemacht zu haben — nur zwei fehr
zufällige Citate ftofsen uns auf (S. 91 und 367) — und
nicht immer ift diefes ohne Nachtheil für ihn gewefen.
Mit der fehr unkritifchen und willkürlichen Behandlung
der Ignatiussage (S. 230 ff.) rächt fich die Unbekannt-
fchaft mit der Arbeit von Zahn, welche dem Verfaffer
namentlich ein weit reicheres Material zur Kritik der
Märtyreracten an die Hand gereicht hätte. Auch die Ver-
kehrtheitder Annahme eines mehrjährigen Zwifchenraumes
Zwilchen derAbfaffung der erftenund der zweiten Apologie
des Juftin (S. 336) ift in der deutfehen Literatur längft
feftgeftellt, und die fyrifch erhaltene pfeudomelitonifche
Apologie durfte nach dem neunten Bande des Corpus
apologetarum von Otto nicht mehr als eine Arbeit des
Melito citirt werden (S. 376). Befonders empfindlich ift
aber der Mangel der Kenntnifs deutfeher Werke in den
zwei erften Capiteln des Aube'fchen, welche die Gegen-
fätze des apoftolifchen Zeitalters und die Schickfale der
Chriftengcmeinde bis zur neronifchen Chriftenverfolgung
in einer wirklich fehr oberflächlichen und wenig belehrenden
Weife behandeln. Das äufserft willkürliche Verfahren
mit der Apoftelgefchichte erinnert ganz an Renan's
Weife, der hier auch die einzige Autorität des Verfaffers
zu fein feheint (S. 7. 28). Namentlich das Verhältnifs
der Erzählung der Apoftelgefchichte vom Apoftelconcil
zum Galaterbrief macht auch Aube an der Glaubwürdigkeit
diefer Erzählung irre, aber er weifs feiner Einficht
keinerlei Confcquenz zu geben (f. befonders S. 12 ff.),
fcheidet in fehr willkürlicher Weife das angeblich
Hiftorifche aus dem 15. Capitcl der Apoftelgefchichte
aus und giebt darnach einen Bericht von der gröfsten Halt-
lofigkeit und von fehr trügerifcher Anfchaulichkeit (S. 21 ff).
Das Apofteldecret meint der Verfaffer retten zu können,
wenn deffen Abmachungen nur mündlich nicht fchrift-
lich feftgefetzt worden find (S. 24). Eine feinere und
tiefer in die Quellen eindringende Kritik würde den Verfaffer
oft davor gefchützt haben, mit Gesichtspunkten
von unnöthiger Allgemeinheit zu operiren, wie z. B.
in feinen Erörterungen über den Streit des Paulus mit
Petrus in Antiochien, wo überdies der Verfaffer zwifchen
der höchften Schätzung der principiellen Bedeutung
diefes Streits und feiner Ableitung aus dem Temperament
des Paulus haltlos fchwankt (S. 31). Die Gunft,
welche die Evangelien dem Pilatus zuwenden, erkennt
der Verfaffer (S. 40 f.), an eine Kritik der Erzählungen
der Apoftelgefchichte von den älteften Verfolgungen
der Urgemeinde in Jerufalem (AG. 1—12)
denkt er gar nicht (S. 42 ff). Ohne alles Weitere glaubt
er der Apoftelgefchichte, dafs Paulus auf feinen Reifen
fich immer zuerft an die Juden gewendet (S. 47), und
fieht die Erzählung von der Verhaftung des Paulus zu
Philippi AG. 16 für ein Stück des Berichts des Reife-
genoffen des Apoftcls an (S. 50). Gegen das Nafiräats-
opfer desPaulusAG. 21 hat er gar*kein Bedenken (S. 54 f.),
gefchweige denn gegen den Bericht der Apostelgefchichte
1 vom Proceffe des Paulus (S. 55 ff.). Das alles führen
wir an, um unfer Bedauern zu begründen, dafs die
Einlcitungscapitel des Verfaffers im Verhältnifs zu feiner
Erzählung der Chriftenvcrfolgungen feit Nero ein ziemlich
heterogenes Gebilde find, und der Verfaffer für die kriti-
fchen Gefichtspunkte diefef feiner Erzählung von der
Tradition über die chriftliche Urzeit den Gebrauch zu
machen nicht verftanden hat, der unferer Anficht nach
fich davon machen läfst.
Noch möchte Referent auszufprechen nicht unter-
laffen, dafs er fich gefreut hat, das Werk Aube's in
manchen nicht unwichtigen Punkten mit feiner kurz zuvor
erfchienenen Abhandlung über die Gefetzc der römifchen
Kaifer von Trajan bis Marc Aurel gegen die Chriften
und ihre Auffaffung bei den Kirchenfchriftftellern fich begegnen
zu fehen. Doch find Aube die Gefichtspunkte, welche
der Referent in diefer Abhandlung für das Verftändnifs
der chriftlichen Tradition über die Verfolgungen und die
Stellung der Kirche zum Staate eröffnet zu haben meint,
noch verfchloffen geblieben. Sonft bedurfte es keiner
fo gewaltfamen Bcfeitigung des Zeugnifses des Juftin
für das hadrianifche Chriftenrefcript, wie der Verfaffer fie
fich abdringen läfst (S. 272 f.), noch durfte er die eigen-
thümliche Auffaffung des Chriftenrcfcripts des Trajan
bei den Kirchenfchriftftellern als eines Schutzcdicts, die
auch ihm auffällt, fo unerklärt gelten laffen (S. 227).
Von der Darfteilung der Verfolgungen bei Tertullian
Apol. c. 5 macht Aube überhaupt wiederholt einen
falfchen Gebrauch (S. 388. 452), weil er die Illufionen
diefer Stelle weder durchfehaut noch abzuleiten weifs.
Ueberhaupt mufs man fagen, dafs der Verfaffer die
Stellung des römifchen Staats zur Chriftengemeinde bis
zum Tode Marc Aurel's im Ganzen richtig charakterifirt
hat, dagegen mindeftens dürftiger die Stellung diefer
Gemeinde zum Staate, indem er namentlich für die
cigenthümliche Annäherung der Chriftengemeinde an
den Staat, die fich in derfelben Periode vollzieht, keinen
Blick hat. Um jedoch unferer Meinung von diefem
Werke entfprechend mit einem empfehlenden Worte zu
fchliefsen, bemerken wir noch, dafs der Verfaffer fein
Werk mit einem fehr werthvollen Anhang verfehen hat,
in welchen er zwei von ihm fchon früher veröffentlichte
Abhandlungen aufgenommen hat. Die eine betrifft die
Gefetzmäfsigkeit des Chriftenthums im römifchen Reiche
während des erften Jahrhunderts und ftellt gegen abenteuerliche
Meinungen de Roffi's den wirklichen Charakter
der fogenannten Verfolgungen des Nero und des Domitian
fett, die andere enthält eine gründliche Kritik des
Martyriums der Eelicitas und ihrer neben Söhne, welches
der Verfaffer aus der Zeit des Marc Aurel in die des
Septimius Severus zu verfetzen geneigt ift.
Bafel. . Eranz Overbeck.
Leimbach. Reallehr. Joh. Heinr., Aug. Friedr. Chr. Vilmar
nach feinem Leben und Wirken dargeftellt. Hannover
1875, Eeefche. (VIII, 170 S. 8.) M. 2. —
Eine anfprechende Lebensfkizze des originellen,
bedeutend angelegten Mannes und kraftvollen Charakters.
In fchlichter Anfchaulichkeit wird fein Bildungs- und Entwicklungsgang
zum Theil auf Grund einer Selbftbio-
graphie Vilmar's dargeftellt, wie er, ein Pfarrersfohn,
unter überaus einfachen Verhältnifsen in ftrenger Zucht