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Ausgabe: | 1876 |
Spalte: | 26-27 |
Autor/Hrsg.: | Wuttke, Adolf |
Titel/Untertitel: | Handbuch der christlichen Sittenlehre. 3. verb. u. verm. Aufl. 2 Bde 1876 |
Rezensent: | Kähler, Martin |
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Theologifche Litcraturzeitung. 1876. Nr. 1.
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Haltungen ift. Religion ift das erhebende Gefühl, Gott
zur Erreichung feiner Zwecke die ihm fo dringend nöthige
Hülfe zu leihen; dies ift der Keim des Troftes der gänzlich
aufzugebenden Lehre von der allmächtigen Vor-
fehung. Für und wider die Unfterblichkeit giebt es
aufserhalb der Religion keinen Beweis, in ihr nur die
Möglichkeit der Hoffnung, da wir weder, ob Gott fie
uns geben kann und will, noch das Gegentheil wiffen.
Diefe natürliche Gotteserkenntnifs ermöglicht die Annahme
einer Offenbarung; denn es ift wünfehenswerth und nicht
unwahrfcheinlich, dafs Gott in die unvollkommene Mafchine
von Zeit zu Zeit eingreife und den Menfchen nützliche
Lehren mittheile. Ihre Wirklichkeit kann nur durch
übernatürliche Thatfachen, durch Wunder, bewiefen
werden; folche unzweifelhaft zu erkennen, ift freilich
fchwer, doppelt für uns bei der fchlechten Befchaffcnheit
der Zeugen und Zeugniffe. Chrifti Offenbarungscharakter 1
i(t fehr unficher, weil er auf feinem Selbftzeugnifs ruht
und in unwiffenfehaftlichen Zeiten grofse Männer ,ehren-
werthe Befonderheiten' göttlicher Infpiration zuzufchrei-
ben pflegen. Doch fichert ihm die Originalität feiner
Reden eine Stelle unter den erften Genien der Menfch-
heit, und es wäre doch möglich, dafs er war, wofür er
fleh hielt, ein von Gott mit der Miffion, die Menfchen
zur Wahrheit und Tugend zu führen, betrauter Mann.
Es ift nun eine erlaubte Schwäche, mit der Phantafle
in folche Möglichkeiten fleh zu vertiefen, wie fie die
denkende Betrachtung von den Sätzen der Religion übrig
läfst, und fo durch diefe anmuthenden Gedanken, die
nicht wahr zu fein brauchen, die Richtung der Gefühle
auf das Gute zu beleben. Unftreitig befreit uns die
Hoffnung auf ein ewiges Leben von dem niederdrückenden
Gefühl der Unbedeutendheit untres Lebens, erhöht
die ideale Verkörperung unfres flttlichen Mafsftabes in
der Gottheit, wenn wir an ihre Wirklichkeit glauben, die
Kraft der flttlichen Gefühle, leiftet endlich dies die chrift-
liche Religicm insbefondere durch die einzigartige Ge-
ftalt Chrifti. Der Mangel an Intenfität des Einflutses auf
die Charakterbildung, den der wiffenfehaftlich allein haltbare
Wahrfcheinlichkeitsglaube hat im Vergleich mit
einem fetten Glauben, wird mehr als aufgewogen durch
die gröfsere Reinheit der Sittlichkeit, die er fanetionirt.
Wenn Mill felbft gefleht, dafs die einzig ,nützliche'
Function der Religion durch die Abfchwächung der Ge-
wifsheit in eine höchft geringe Wahrfcheinlichkeit in
Frage geftellt wird — und das ift im Leben wohl noch
anders der Fall als in Mill's Buche — wozu dann diefer
unreine Zufatz zu der viel höheren Humanitätsreligion?
Oder follte der denkende Geift mit jenem Schneider
fympathifiren, dergeftand: ,Herr Pafter, bei Nacht jloob
ik alles'? Nicht am Orte wäre eine Kritik gegenüber
einer Anfchauung, die das Selbftgefühl werkthätigen
Mitleids mit Gott zur Religion macht, die kein allum-
faffendes fittliches Gut kennt, der das Vergnügen ein
moralifcher Zweck, ein erfchöpfender Gegenftand flttlichen
Wohlwollens ift, deren naiver Dogmatismus nicht
einmal eine Ahnung hat von den Abfurditäten und
inneren Widerfprüchen ihrer Begriffe über die letzten
Gründe des Seins, die endlich gefchmacklos und philiftrös
ift bis zum Unglaublichen. In Deutfchland wenigftens
ift eine Kritik folcher Gedanken nicht am Orte. Oder
foll etwa die Ueberfetzung eines folchen Buches den
Beweis liefern, dafs wir Deutfche den Knechtesflnn
gegenüber dem Ausland, den wir im politifchen Leben
abgethan, in der Wiffenfchaft bewahren wollen?
Wernigerode. Gymnafiallchrer J. Gottfchick.
Wuttke, weil. Prof. Dr. Adf, Handbuch der christlichen
Sittenlehre. 3. verb. u. verm. Aufl. Durchgefehen u.
durch Anmerkgn. ergänzt v. Prof. Dr. Ludw. Schulze.
2 Bde. Leipzig 1874 u. 1875, Hinrichs' Verl. (XXVIII,
516 u. VIII, 622 S. gr. 8.) M. 18. —; geb. M. 20. 40.
Der Herausgeber hat zunächft einen unveränderten
Abdruck der 2. Aufl. gegeben. Dies Verfahren entfpricht
durchaus feiner Pflicht gegenüber dem fei. Verfaffer und
der Leferwelt, welche deffen Arbeit fo günftig aufgenommen
hat, dafs in 15 Jahren die 3. Ausgabe eines fo
umfangreichen Werkes nöthig geworden ift. Eben deshalb
kann fleh der Berichterftatter begnügen, diefe That-
fache mitzutheilen. Darüber hinaus bietet D. Sch. uns
aber am Schluffe jedes Bandes ergänzende Anmerkungen,
deren Verhältnifs zu der W.'fchcn Arbeit hier ins Auge
gefafst werden foll.
Die ausführliche Gefchichte der Ethik hat der Sittenlehre
W.'s viele Lefer zugeführt, die von feiner fyftema-
tifchen Arbeit nicht angezogen wurden; mit Recht hat
daher D. Sch. befonderen Fleifs darauf verwandt, diefe
Gefchichte auf dem laufenden zu erhalten; wir flehen
auch nicht an, diefem Theile feiner Arbeit das gröfseftc
Verdienft beizumeffen. Er hat reichlich und, fo weit man
flehen kann, auf diefem Gebiete unparteiifch Literatur
zufammengetragen, und an einzelnen Punkten Mängel
ergänzt, die an fleh empfindlich waren und zum Theil
mit jedem Jahre empfindlicher wurden; dahin find die
Anmerkungen über Dav. Straufs, den neueren naturge-
fchichtlichen Materialismus, Herbart, Schopenhauer,
Hartmann und andere neuerdings in Wirkung tretende
Schriftfteller zu rechnen; demnächft befonders der Bericht
über die Controverfe wegen der Moralftatiftik, bei der
W. felbft betheiligt war. Je mehr diefe Stücke in der
That Ergänzungen find, indem die einen nur Literatur
anfügen, die anderen Lücken der Berichterftattung ausfüllen
, um fo paffender wäre eine Anfügung unter dem
Texte gewefen; da W. felbft nur wenige Noten unter
dem Strich gemacht, wären dadurch die Grenzen zwifchen
dem verfchiedenen Eigenthume für einen nur ein wenig
aufmerkfamen Blick nicht verrückt, dagegen die Handlichkeit
diefes Handbuches der Gefchichte der Ethik
erklecklich erhöht worden. An manchen Stellen darf
man freilich zweifeln, ob die Zufätze Verbefferungen enthalten
; beifpielsweife A. 17, wo das Dämonium des Sokra-
tes ohne weiteres mit dem Gewiffen verwirrt und daraus
dann auf eine religiöfe Sittlichkeit gefchloffen wird; A. 22,
wo aus einer vereinzelten Stelle der Politik ein Einwand
gegen die Darftellung erhoben wird, welche W. von dem
Intellectualismus des Ariftoteles gegeben; A. 80, wo,
fchwerlich im Sinne des Verf.'s., Swedenborg unter die
evangelifch kirchlichen Ethiker geftellt ift. Sehr feltfam
nimmt es fleh aus, wenn D. Sch. A. 5 den Text dahin
ergänzt, Calixt habe zuerft verfucht, Ethik und Dogma-
tik zu trennen, während er S. 156 von W. lernen konnte,
dafs dies ,zuerft' d. h. 60 Jahre zuvor von Danäus
gefchehen fei.
Bisweilen fcheint überhaupt fowohl Faffung als Druck
diefer Anmerkungen etwas zu flüchtig beforgt zu fein.
So find A. 22 die Anführungen des W.'fchen Textes nach
der 2. Aufl. mit abweichender Seitenzahl ftehn geblieben ;
A. 52 fleht synthesis für synteresis; A. 87 Heydler für
Heyder; B. 2 A. 148 u. 150 finden im Texte keinen An-
fchlufs. Diefe zufälligen Beifpiele beweifen, dafs wohl
mehr als zwei Verbefferungen 2,622 aufzuzählen gewefen
wären; und bei einem Nachfchlage- und Studentenbuche
ift das nichts Gleichgiltiges. Die überhaupt immer mehr
einreifsende Nachläfsigkeit in der Schreibweife macht auch
bei D. Sch. bisweilen den Sinn undeutlich. B. 2. A. 150
fleht in Frage des Confeffionswechfels feelforgerifche
Weisheit neben ernftlichem Gebete; foll man fich felbft
mit jener behandeln? A. 109 foll die Kindertaufe ohne