Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1876 Nr. 1

Spalte:

23

Titel/Untertitel:

Schulze, Evangelisch-lutherische Dogmatik des 17. Jahrh. populär dargestellt. 1. u. 2. Bd 1876

Rezensent:

Kaftan, Julius

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

23

Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 1.

24

Schulze, Rect. Dr., Evangelisch-lutherische Dogmatik des
17. Jahrh. populär dargeftellt. r. u. 2. Bd. Hannover
1875, Hahn. (IV, 285 u. 273 S. gr. 8.) ä M. 4. —

An der Hand von Quenftedt und Hollaz wird in
diefem Buch die orthodoxe lutherifche Dogmatik des
17. Jahrhunderts dargeftellt. Die vorliegenden beiden
Bände reichen bis zum Ende der Chriftologie. Es ift
dem Verfaffer durchweg gelungen, die fcholaftifch aus-
gefponnenen Gedankenreihen der alten Dogmatiker in
ein lesbares Deutfch zu übertragen. Und die zum
grofsen Theil voll ausgefchriebenen Bibelcitate tragen
dazu bei, dem Ganzen eine gefälligere Form zu geben.
Weniger anfprechend ift, dafs die ord nende Hand des
Autors fehr ftark hervortritt. Darin wäre ein engerer
Anfchlufs an die objective Darftellungsweife der alten
Theologen rathfamer gewefen. Das zur Orientirung Noth-
wendige hätte fich in Anmerkungen unter dem Text
fagen laffen. Doch im Wefentlichen ift die geftellte Aufgabe
mit Gefchick gelöft.

Etwas anderes ift — und die Frage drängt fich noth-
wendig auf — was von dem ganzen Unternehmen zu
halten fei. Die populäre Darfteilung einer beftimmten
Form der chriftlichen Dogmatik hat nur dann einen Sinn,
wenn man fie in diefer Form für den im Ganzen und
Grofsen richtigen dogmatifchen Ausdruck der chriftlichen
Wahrheit hält. Denn dem rein hiftorifchen Intereffe wird
der Natur der Sache nach eine folche populäre Darfteilung
weder dienen können, noch wollen. Unzweifelhaft hat
auch das Buch zum Zweck, die an das lutherifche Be-
kenntnifs gebundene Dogmatik des fiebzehnten Jahrhunderts
im oben bezeichneten Sinn weiteren Kreifen zugänglich
zu machen. Als Lefer werden angehende Studenten
der Theologie und Laien in Ausficht genommen.
Studenten wenden ihre Zeit aber beffer an, wenn fie fich
aus Baiers Compendium eine eigne Anfchauung von der
alten Dogmatik verfchaffen. Daneben findet fich der
dogmatifche Stoff in den bekannten und gebräuchlichen
Ilülfsmitteln zufammengeftellt. Folglich hat das Buch
nur eine Berechtigung, wenn es einem wirklichen Bedürf-
nifs der Laien weit entgegenkommt. Dies möchte aber
ernftlich zu bezweifeln fein. Denn dem Bcdürfnifs wiffen-
fchaftlich gebildeter Chriften kann heute die Dogmatik
des 17. Jahrhunderts fo wenig genügen, als die heutige
Theologie fie für den richtigen dogmatifchen Ausdruck
der chriftlichen Wahrheit halten kann. Anftatt des vom
Verfaffer beabfichtigten Erfolgs ift daher eher eine entgegengefetzte
Wirkung des Buches zu befürchten —
wenn es überhaupt eine folche ausübt. So ift das ganze
Unternehmen für das theologifche Studium bedeutungslos
, für das kirchliche Leben der Gegenwart im beften
Fall unfehädlich.

Bafel. J. Kaftan.

Mill. John Stuart, Ueber Religion. Natur. Die Nützlichkeit
der Religion. Theismus. 3 nachgelaffene Effays.
Deutfch v. Emil Lehmann. Berlin 1875, F. Duncker.
(VI, 213 S. gr. 8.) M. 5. -

Die 3 von einander unabhängigen Effays wiederholen
vielfach diefelben Gedanken. Der erfte bekämpft
das naturam Jequi als Mafsftab der Sittlichkeit und zeigt,
wie die Natur aufser uns und in uns ein Widerfpiel des
Sittlichen ift. Der zweite unterfucht, ob die Segnungen
der Religion ihr ausfchliefslich inhärent oder von ihr unabhängig
find. Ihre focialen Segnungen werden aus dem Ein-
flufs der Auctorität, der Erziehung, der öffentlichen Meinung
hergeleitet und es wird behauptet, dafs mit Hülfe
diefer Faktoren auch ein von der Religion unabhängiges
Syftem focialer Pflichten daffelbe werde leiften können.
Gegenüber der Behauptung, dafs nur die Furcht Lehrquelle
und Belebungsmittel der Religion fei, wird die

Autonomie der letzteren gewahrt. Die Religion hat
einen ,ehrenwertheren' Urfprung als die Furcht, nämlich
die Neigung, an die Belebtheit der Gegenftände zu glauben,
und fichert fich in gebildeten Gemüthern ihre Fortdauer
in Folge der Befchränktheit unfres Wiffens und Strebens,
indem die Phantafie die unbekannten Regionen, befon-
ders der Zukunft, mit idealeren Vorftellungen erfüllt, an
deren Wirklichkeit das Gemüth glaubt. In der hieraus
erwachfenden perfönlichen Befriedigung, die eine .heitere
Stimmung' ermöglicht, und in der Anregung erhabener
Gefühle, die für die Charakterbildung nützlich find, be-
fteht der wirkliche Werth der Religion. Diefe Function
zu erfüllen ift aber die Idee der Humanität für fich im
Stande, die dies irdifche Leben idealifirt, die die Sympathie
mit der in ihrer Lebensdauer praktifch unbegrenzten
und unendlicher Vervollkommnung fähigen Mcnfchheit
weckt und fo der Phantafie hinreichenden Spielraum eröffnet
. Ja, fie kann es beffer als die Religion, weil fie uneigennützig
auf jenfeitigen Lohn verzichtend mit der Sympathie
der Guten zufrieden und weil fie frei ift von der
Verkehrtheit aller geiftigen Fähigkeiten, die in der Religion
daher entfteht, dafs dem Urheber einer plump gemachten
und launenhaft regierten Schöpfung Vollkommenheit zu-
gefchrieben wird. Ja, fie ift felbft eine Religion: denn
das Wefen der letzteren ift eine concentrirte Richtung
unfrer Wünfche auf einen idealen, über unfre Selbftfucht
erhabnen Gegenftand [!].

Der dritte Effay ermittelt, wie viel von der Religion
für einen denkenden Geift übrig bleibe. Vereinbar mit der
Wiffenfchaft ift eine Theorie, die unwandelbare Gefetzc des
göttlichen Willens annimmt, aber ift fie beweisbar ? Unwiffen-
fchaftlich find alle apriorifchen Beweife. Von den apofterio-
rifchen lehrt nichts der kofmologifche: — er gehört hierher
, weil die Erfahrung uns das Caufalitätsgefetz lehrt! —
denn der Rückfchluss nach dem Gefetz, dafs jede in
die Zeit fallende Veränderung einer Erklärung durch eine
Urfache bedürfe, führt nur zu der in ihrer Quantität fich
gleichbleibenden anfangslöfen Kraft, die ebenfowenig wie
der Stoff einer Erklärung bedarf und nicht geiftig zu fein
braucht. Kants (!) Schlufs aus dem Sittengebot auf einen
Gebieter ergiebt nur eine wünfehenswerthe Annahme.
Wenn auch von befchränktem Umfang und von fchwacher
Kraft ift der teleologifche doch ein wirklicher Wahrfchein-
lichkeitsbeweis. In einer Reihe von Erfcheinungen ift
die Wirkung felbft Urfache für ihre hervorbringenden
Urfachen, das ift Thatfache; dagegen unficher ift es, diefe
Urfächlichkeit dem Zweckgedanken zuzufchreiben und
demnach auf einen intelligenten Urheber jener Erfcheinungen
zu fchliefsen, da hierfür eine, wenn auch vorerft
noch problematifche Erklärung der Darwinismus giebt, der
fo den teleologifchen Beweis fehr abfehwächt, aber bei
unferm jetzigen Wiffen feine Wahrfcheinlichkeit noch
nicht aufhebt. Diefer Gott ift uns an Macht und Wiffen
fehr überlegen; allmächtig ift er nicht, das beweifen jene
Anzeichen eines Planes und der Benutzung von Mitteln,
die ihn durch den Stoff mit feinen Eigenfchaften be-
fchränkt zeigen; allwiffend und allweife wahrfcheinlich
nicht, weil viele feiner Veranftaltungen fo plump und
ungefchickt find, dafs mit ein wenig mehr Wiffen und
Kraft wir fie wohl beffer zu Stande gebracht hätten.
Von Gerechtigkeit zeigt die Welt nichts; doch braucht
Gott nun nicht mehr ein moralifches Ungeheuer von
der graufigen Nichtswürdigkeit zu fein, wie nach der
Religion er als allmächtiger Welturheber fein müfste.
Einige feiner Zwecke machen es wahrfcheinlich, dafs er
das Vergnügen feiner Gefchöpfe wünfche und fo theil-
weife einen moralifchen Zweck habe; denn der nicht
zufällige Schmerz ift mehr ein Anzeichen göttlicher
Plumpheit. Gottes Gefammtzweck kann das Wohl feiner
Gefchöpfe nicht fein; er wäre auch fchmählich verfehlt,
und der Menfch verdankt fich felbft weit mehr als Gott.
Dafs Gottes Dafein nicht aufhört, ift wahrfcheinlich, weil
das Gefetz des Todes eine Folge feiner eignen Veran-