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Ausgabe:

1876 Nr. 15

Spalte:

403-405

Autor/Hrsg.:

Gerok, Karl

Titel/Untertitel:

Jugenderinnerungen. 2. Aufl., ungeänderter Abdruck 1876

Rezensent:

Meyer, Ernst Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1876. No. 15.

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fo fei dem Ref. die Frage erlaubt, ob nicht Marginal -
noten mit der jedesmaligen Nummer der Diftinction
dem geltend gemachten Uebelftande Abhülfe geleiftet
hätten?

3) Die Paleae. Auch in Bezug auf die von Pauca-
palea zu dem Decret Gratian's hinzugefügten Quellen-
ftellen, die fogenannten Paleae, die von den früheren
Herausgebern unter der oben angeführten Bezeichnung
in den Text felbft, zuerft aus Mifsverftand, fpäter mehr
in Folge eines mangelhaften textkritifchen Apparats aufgenommen
refp. in demfelben beibehalten worden find,
hat Friedberg von der Durchführung feines oberften
Grundfatzes: nur den urfprünglichen Text des Decretum
Grat, wiederzugeben, Abftand nehmen müffen. Da die
Paleae ,feit Jahrhunderten mit den Gratianifchen Canoncs
mitgezählt worden find', fo hätte die Ausfcheidung der-
felben nur dann erfolgen können, wenn man eine die
praktifche Benutzung überaus erfchwerende, die unfäg-
lichfte Verwirrung hervorrufende neue Zählung der Canones
hätte einführen wollen. Aber auch die Gewiffenhaftig-
keit erlaubte es dem Herausgeber nicht, überall eine
Scheidung zwifchen den von Gratian felbft angezogenen
und den von Paucapalea hinzugefügten Canones ftreng
durchzuführen; reichte doch zu einer folchen das ihm zu
Gebote flehende handfchriftliche Material nicht aus. Um
aber diefe Einfchiebfel des Paucapalea kenntlich zu
machen, hat Friedberg fie nicht blofs mit der Bezeichnung
Palea verfehen, fondern auch eingeklammert.

Mag man vielleicht den verfchiedenen Zugeftändnifsen,
die der Herausgeber der praktifchen Benutzbarkeit feiner
Edition macht, im Intereffe der Reconftruction des urfprünglichen
Gratianifchen Textes mit einem weniger
zuftinimenden Urtheil, als es dem Ref. geboten fchien,
begegnen, fo mufs fich doch jeder Sachkundige Friedberg
für die Uebernahme diefes Jierculeum opus1 (S. 38) zu
Dank verpflichtet fühlen und wird ihm für die Art und
Weife, in welcher er feine überaus fchwiengc Aufgabe
zu löfen gefucht, reiche Anerkennung nicht vertagen
dürfen. Als ein Zeichen, in welchem Mafse auch der
Kirchenhiftoriker an diefer von Friedberg unternommenen
Wiederherftellung des Gratianifchen Textes regen Antheil
nimmt, und dem Herausgeber für diefelbe Dank weifs,
mögen vorftehende Zeilen angefehen werden.

Strafsburg. R. Zocpffel.

Gerok, Karl, Jugenderinnerungen. Zweite Aufl., unge-
änderter Abdruck. Bielefeld 1876, Velhagen &Klafing.
(VI, 360 S. gr. 8.) M. 5. —; geb. M. 6. —

Wie alle Schriften des edlen Dichters und gemüth-
vollen Theologen, der zu den populärften im evangelifchen
Deutfchland zählt, hat auch diefe in weiteften Kreifen mit
Recht die beifälligfte Aufnahme gefunden, und ift ebenfo
zu einem Lieblingsbuch des gebildeten Publicums geworden
, wie die bekannten ,Erinnerungen eines alten
Mannes', mit welchem Buch diefes in feiner Geflnnung und
in feinem Tone mannigfach verwandt ift. Die Schrift verdient
aber auch eine befondere Erwähnung in einem
theologifchen Fachblatt. So wenig der Verf. in feiner
liebenswürdigen Befcheidenheit darauf ausgeht, das Bild
feiner Jugend, das er der zahlreichen Schaar feiner bekannten
und unbekannten Freunde zum wohlwollenden
Andenken darbietet, etwa zu einem Spiegelbilde feiner
Zeit zu erweitern und wiffenfchaftliche Anfprüche damit
zu befriedigen, fo hat doch feine Biographie thatfächlich
zugleich ein theologifches Intereffe im engeren Sinne. Zu-
nächft als ein intereffanter Beitrag zur neueren Kirchen-
gefchichte des evangelifchen Deutfchland, deren hervorragende
Geftalten und bedeutfame Wandlungen zu einem
nicht geringen Theil ihren natürlichen Boden in der
Heimath des Verfaffers haben, und mit den Jugenderinnerungen
desfelben, zumal aus feiner Stiftszeit, eng

verknüpft find; und wie trefflich verfteht es der Verf.,
mit feinen, leicht hingeworfenen Strichen jene Geftalten
zu zeichnen, und mit lebendigfter Anfchaulichkeit in die
Situation der Zeit einzuführen, dabei durch den ruhigen,
fanftbewegten Flufs feiner Rede und durch einen köftlichen
Humor, mit dem er feine Darfteilung zu würzen verfteht,
in die wohlthuendfte Stimmung zu verfetzen.

Aber auch abgefehen von feinen hiftorifchen Beziehungen
hat diefes Lebensbild eine theologifche
Bedeutung als die Entwicklungsgefchichte eines Mannes,
der zugleich als Poet und als Theolog angelegt ift, und
der ebenfo Beides, das echt humane, wie das chriftliche,
fpeciell das theologifche Element in fchöner Harmonie
in feiner Perfönlichkeit vereinigt. Diefe Seite möchten wir
befonders betonen. Wie viele Differenzen nicht blofs
zwifchen einer oberflächlichen, modernen Halbbildung,
fondern auch zwifchen ernfter, gediegener Bildung und
der Kirche beruhen auf perfönlichen Eindrücken vom
Gegentheil bei folchen Theologen, bei welchen derMcnfch
im Theologen untergegangen ift und bei welchen beide
Potenzen fich nicht in freier, gefunder Weife durchdringen.
Nicht alle Theologen freilich werden dabei von ihrer
Naturgabe und von ihrer Lebensführung fo wirkfam unter-
ftützt als ein Gerok. Es ift ein feiten glücklich geführtes
Leben, in deffen jugendlichen Gang uns der Verf. hineinblicken
läfst. Aufgewachfen in der gefunden Atmosphäre
einer lebensvollen Frömmigkeit, eines bibelgläubigen,
milden Chriftenthums, das den tüchtigen Kern des fchwä-
bifchen Pietismus ohne feine krankhaften Beifätze in fich
bewahrt; gefättigt von einer reichen Fülle claffifcher
und allgemeiner Bildungselemente, die der flrebfame
jugendliche Geift lebendig in fich aufgenommen; begabt
mit einer Neigung zu befchaulichem Stillleben und doch
dabei mit offenem, freiem Blick eines finnigen Geiftes für
alles menfehlich Edle und Schöne hat fich in dem Verf.
der Dichter und der Theolog zugleich in ungeftörter Entfaltung
der Gaben entwickelt. Es könnte auffallend
erfcheinen, dafs der gewaltige Kampf und Sturm, der zur
Univerfitätszeit des Verf. und über diefe hinaus die ganze
theologifche Welt bewegt, in dem jugendlich warmen und
lebendigen Gemüthe nicht noch ftärkere Wellen und
heftigere innere Bewegungen erregt, als wir aus feinem
Lebensbild wahrnehmen; nur an einer Stelle wird von
einer Glaubensanfechtung im eigentlichen Sinne des
Wortes, von einer tiefer gehenden Krilis erzählt, die das
Leben Jefu von Straufs in dem jungen Theologen, begreiflicherweife
doppelt in dem fchwäbifchen Theologen
und dazu in dem Stiftler hervorbringen mufste. Die freie,
fröhliche Sicherheit des Glaubens war eine Zeit lang gebrochen
, ein Gefühl kalter, leerer Oede trat an feine Stelle,
der Boden wankte unter den Füfsen. Indefs auch diefe
Anfechtung wurde allmählich überwunden. Der tiefe Eindruck
von der lebendigen Macht des Chriftenthums war
ftärker, als alle Künfte der Dialektik und ihre blendenden
Einwürfe. Es gehört eben zu den befonders glücklichen
Gaben des Verf. auch ein gefunder, praktifcher Inftinct,
der ungefunde, fremdartige Elemente ohne fchwerere innere
Kämpfe auszufcheiden und das harmonifche Gleichgewicht
wieder zu finden verfteht. Daher der Umftand,
dafs das Element der tentatio in dem trefflichen Theologen
weniger hervortritt als das der oratio und der
mcditatio.

Verf. hebt gelegentlich als befondere Vorzüge der
fchwäbifchen Geiftlichkeit hervor den milden melanch-
thonifchen Geift, die dogmatifche Weitherzigkeit bei aller
Entfchiedenheit des Bibelglaubens, die brüderliche Verträglichkeit
bei aller Mannigfaltigkeit der theologifchen
Standpunkte. Möge diefer Geift einer lebendigen, biblifchen
Pofitivität, wie er in diefer Selbftbiographie, einem trefflichen
Commentar zu dem Wort: ,Alles ift euer, ihr aber
feid Chrifti', fo wohlthuend und fympathifch fich ausfpricht,
der würtembergifchen Landeskirche bewahrt bleiben trotz
aller Verflache, andere Elemente in diefelbe einzupflanzen.