Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1876

Spalte:

20-21

Autor/Hrsg.:

Sauerland, Heinrich V.

Titel/Untertitel:

Das Leben des Dietrich von Nieheim nebst einer Uebersicht über dessen Schriften 1876

Rezensent:

Tschackert, Paul

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

t9

Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. t.

20

gestellten Definition der Aufklärung, die er als ,die Opposition
der fich als felbftftändiges Licht wiffenden Vernunft
gegen den als lichtfcheu vorgestellten Dogmatismus' auf-
fafst, in Widerfpruch, wenn er Männer wie Agobard von
Lyon,' Claudius von Turin, Gottfchalk zu den Aufklärern
rechnet. Der Kampf, den Agobard von Lyon gegen die
finftern Vorurtheile und den Aberglauben feiner Zeit-
genoffen gekämpft, war nicht der Kampf eines Aufklärers
gegen die Dunkelmänner, fondern der Kampf des Reformators
gegen die in heidnifche Vorstellungen zurückgefallenen
, mit der heiligen Schrift fich in Widerfpruch
letzenden Christen. Wir haben keinen Satz in den aus
Agobards Schriften vom Verfaffer herausgehobenen Gedanken
gefunden, der den Ausfpruch Dr. Reuters: ,Man
könnte fich verfucht fühlen, Agobard den Syftematiker
der Aufklärung zu nennen' (S. 24), rechtfertigte. Oder
foll diefer vielleicht allein deshalb — wie der Verfaffer
durchblicken läfst — ein Aufklärer fein, weil fich bei ihm
einzelne Urtheile finden, ,die als Zeugniffe einer nüchternen
, die Erkenntnifs des Nexus des natürlichen Ge-
fchehens fordernden Weltanficht gelten können'? Ich
fürchte, wenn man diefen vom Verfaffer beliebten Mafs-
ftab an die Reformatoren des XVI. Säculums, ja an den
Apostel Paulus legen wollte, man könnte fie insgefammt
zu Aufklärern degradiren. Völlig unverständlich ist es uns,
wie der Verfaffer in Claudius von Turin einen ,bibli-
fchen Reformator und kritifchen Aufklärer zugleich'
fieht. In den weiteren Ausführungen fcheint Dr. Reuter
diefes Urtheil in fo fern zurückzunehmen, als er ihm die
Tendenz: aufklärend zu wirken, abfpricht und nur über
,den fctrfolg feiner literärifchen und praktifchen Agitation'
das harte und in den Quellen nicht begründete Urtheil
fällt, ,er habe pofitiv reformatorifch nachweislich (?)
Nichts, im Sinne der Aufklärung vielleicht (!) Manches
gewirkt' (S. 24). Wir müffen es uns vertagen, noch
weiter auf Einzelheiten aus dem ersten Abfchnitt näher
einzugehn. Nur fei uns noch die Bemerkung erlaubt,
dafs das Sprunghafte, Abgeriffene der Darstellung, welches
fich in viel geringerem Mafse auch in den übrigen
Abschnitten findet, im ersten Buche in verstärkter Weife
wohl defshalb hervortritt, weil fich kein innerer Zufammen-
hang zwifchen diefen angeblichen Aufklärern des 8.
und 9. Jahrhunderts herstellen läfst, indem der Verfaffer
fie ja künstlich hervorgezaubert hat. Wäre uns der Raum
nicht bemeffen, wir würden uns nicht um die Freude
bringen, eingehend über den Entwickelungsgang der drei
übrigen Bücher, über die reichen Refultate derfelben zu
referiren. Es fei uns nur vergönnt darauf aufmerkfam
zu machen, dafs je näher der Verfaffer dem 12. Jahrhundert
rückt, dem Jahrhundert, welches wir als feine
befondere Domaine anfehn müffen, die Ausführungen
abgefchloffener, die Charakteristiken pikanter, der Quellennachweis
reicher, die Darfteilung einezufammenhängendere
wird. Dafs der vierte Abfchnitt eine zu breite Befprechung
des Abälard enthält, welche zu der ganzen Anlage des
Werkes ihrer grofsen Seitenzahl nach nicht pafst, wird
jedem Lefer fofort auffallen. Das vierte Buch hätte eine
gefonderte Monographie bilden können, deren kurze Re-
lultate vom Verfaffer in die Gefchichte der Aufklärung
aufzunehmen gewefen wären. Mit den in der Einleitung
entwickelten Grundfätzen kann fich Recenfent völlig einverstanden
erklären, hofft aber, dafs fie nicht nur von
Einzelnen, wie Dr. Reuter annimmt, praktifch ausgeübt
werden, fondern fchon in weiteren Kreifen Eingang gefunden
haben. Die Sticheleien auf Hausrath und Holtz-
mann wären beffer aus der Vorrede fortgelaufen worden,
zumal da in einem Buch, welches fich über das Mittelalter
verbreitet, keine Veranlaffung gegeben war, diefer
Männer, die fich mit der neuteftamentlichen Zeitgeschichte
und der Gefchichte der ersten drei Jahrhunderte befchäf-
tigen, zu gedenken.

Mit grofsen Erwartungen fehen wir dem zweiten
Bande entgegen, der ja gerade die Epoche behandeln

foll, in welcher wir mit ganz befonderem Rechte von
i einer Aufklärung im Mittelalter reden können.

Strafsburg. R. Zoepffel.

Sauerland, Dr. H. V., Das Leben des Dietrich von Nieheim

nebst einer Ueberficht über deffen Schriften. (Diss.)
Göttingen 1875 > Druck der Gebr. Hofer. (86 S. 8.)

Auf Grund forgfältiger Leetüre der Schriften Diet-
rich's hat S. mit Benutzung unbekannten archivalifchen
| Materials in der vorliegenden Differtation das äufsere
Leben des berühmten Westfalen fo trefflich gezeichnet,
dafs die bisherigen Skizzen in den verfchiedenen Ency-
klopädien in diefer Hinficht als veraltet angefehen werden
müffen.

Dietrich, wahrfcheinlich zwifchen 1338 u. 1348 in dem
weftfälifchen Städtchen Nieheim geboren, begab fich nach
Vollendung feiner theologifchen und kanoniftifchen Studien
1372 an die Curie nach Avignon. In feiner Stellung
als Abbreviator literarum Apostolicarum wurde er mit

j dem nachherigen Papft Urban VI. (reg. feit 1378) befreundet
und stand ihm auch in Rom nahe, ohne fich
von der ,eigenfinnigen Strenge des finftern Gebieters' ab-
ftofsen zu laffen. Ihn und die ganze Reihe der folgenden
Papste, welche während des grofsen abendländifchen

j Schismas auf dem Stuhl zu Rom fafsen, begleitete Dietrich
in feiner hohen Stellung mit dem Scharfblick eines fitten-
ftrengen Historikers feiner Zeit. Dies der Grund,
warum die von ihm verfafsten Gefchichtswerke befondere

j Wichtigkeit haben, obgleich fich ihr Verfaffer als Politiker,

| fchwärmerifch begeistert für die alte deutfehe Kaiferpracht,
in die idealiftifchen Traumgebilde Dante's verirrt hat.
Eine befondere Epifode in Dietrich's Leben bildet fein
Episcopat zu Verden (a. d. Aller) von 1395 bis 1399, von
dem aus er aber nicht als Bifchof nach Cambrai, fondei n
in feine alte Stellung nach Rom ging. Seine reichen
trüben Erfahrungen befreundeten ihn zur Zeit der Con-
cilien von Pifa und Conftanz mit der Reformpartei, als
deren radicales Mitglied er bald ungefcheut auftrat, aber
mit ausgefprochenem Widerwillen gegen die Hufitifche
Bewegung. In Conltanz war er gegenwärtig; mit dem
Jahre 1418 aber verfchwindet er aus der Gefchichte; fein
Testament, welches S. mittheilt, verfafste er in diefem
Jahre als Kanonicus von Maftricht.

Auszufetzen ist, dafs der Verf. einzelne ganz unfichere
Thatfachen mit einer leider nur ihm klaren Bestimmtheit
erzählt; fo S. 19 Dietrich's Reife nach Deutfchland, S. 25
die nach Rom, S. 29 die Uneinigkeit mit dem General-
vicar, S. 34 die ,Cambraier Epifode', welche in diefem
Zufammenhang als thatfächlich hingestellt wird, während
dies (f. u.) unwahrfcheinlich ist, und noch andere Vermuthungen
auf S. 46, 56, 57, deren Inhalt fich dem
Verf. unter der Hand zur Gewifsheit verdichtet. Die An-

i gäbe S. 32 ,der anfängliche Widerftand des Herzogs von
Burgund (gegen den Bifchof Ailli) legte fich bald' ift unrichtig
, da Dupont's quellenmäfsige Bearbeitung der
,histoire eccles. de Cambrai1 Tom. II, p. 58 diefes Ereig-
nifs erft geraume Zeit fpäter erfolgen läfst, wofür auch
Martine et Durand, thesaurus II, p. 1464 Ppficht. Ob Dietrich
für den brabantifchen Theil der Diöcefe Cambrai
gegen 1400 zum Bifchof ernannt worden fei, ift fehr
zweifelhaft; ohne Einflufs ift er jedenfalls dort geblieben,
da der von Avignon abhängige Bifchof Ailli im Jahre
1402 die Einführung eines Festes in Brüffel anordnet,
nachdem er dort einen regelmäfsigen Procefs hatte amtlich
veranstalten laffen. (Vgl. Mann, Abrege de l'histoirc
eccles. de Bruxelles. Brüx. 1785. Tom. I. p. 61—67.) Zu
S. 75 fei bemerkt: ,was Meibom bewog, eine Schrift de
reformationc eccles. Dietrich zuzuerkennen', fagt er ja felbft;
er hat diefe Nachricht ,Gesner's Bibliotheca' entlehnt, welche
diefelbe auch wirklich in ihrer Ausg. Tiguri. 1583. fol.
p. 777. beibringt, während der neueste Wiener Manufcripten-