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Ausgabe:

1876 Nr. 12

Spalte:

323-324

Autor/Hrsg.:

Hollenberg, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Philosophische Propädeutik für höhere Schulen. 2. Aufl 1876

Rezensent:

Gottschick, Johannes

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323 Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 12. 324

Tiefen und Höhen der geoffenbarten Wahrheiten für den
in der Jugend vorhandenen oder zu erweckenden gefunden
Menfchenverftand zugänglich machen. Nur hier und
da wird unferes Erachtens zu hoch gegriffen. Edle Einfachheit
bei ähnlichem Streben tritt aus der Brofchüre
von H. Kramer, Superintendent a. D. zu Helmftedt,
entgegen ,die Heilslehre des Chriftenthums, ein Hülfs-
büchlein zum Unterricht für Confirmanden' (2. Aufl. Göttingen
, Vandenhöck & Ruprecht, 1876, 48 S.). Wie es
fchon die eng gefleckten Grenzen der Unterrichts-Zeit
gebieten, find manche Katechismus-Lehren hier nur kürzer
behandelt; doch gelingt dabei dem Verfaffer um fo
btffer, was er als Haupttendenz feiner Schrift bezeichnet:
einen möglichft intenfiv kräftigen Eindruck von der felig-
machenden Kraft des Chriftenthums im Gemüthe zu bewirken
und alfo den Glauben lebendig zu machen. Wie
fie in ihrer Weife will der ,Katechismus Luthcri' von
Ernft Braun, Paftor zu Löhne bei Herford, eine Mitgäbe
für das Leben fein (mit Vorwort von Dr. G. von
Zezfchvvitz, 2. Aufl. Gotha, Guflav Schlöfsmann, 1876,
170 S. 8.J. Auch diefe Schrift verläfst die Ordnung der
fünf Hauptftücke, ohne doch nach Art wiffenfehaftlicher
Lehrbücher die chriftlichc Lehre darzuftellen: vielmehr
hebt fie mit der Lehre vom Gcfetz und von der Sünde
an, um von da aus den Uebcrgang zum zweiten Haupt-
flück zu gewinnen und eingehend von der Heilsordnung
zu handeln; m. a. W. auf Grund des erften Artikels will
Braun das Leben zeichnen, wie es Gott fordert und wie
es von der Sünde cntflellt ift, und auf Grund des dritten
Artikels foll klar werden, wie das durch die Sünde ent-
ffeilte Leben durch den heiligen Geift auf dem Wege
der Heilsordnung wieder hcrgeftellt wird. Sein Material
fchöpft er vielfach aus entlegenen Quellen älterer Zeit
und immer fo, dafs die Lehre der Kirche unter Anwendung
der erotematifchen Form klar und rein entwickelt
wird. Jedenfalls fetzt die Schrift Lefer voraus, welche
in der chriftlichen Erkenntnifs fchon geförderter find.

Leipzig. Wold. Schmidt.

Hollenberg, Dir. Dr. Wilh., Philosophische Propädeutik

(Logik, Pfychologie u. Ethik] f. höhere Schulen.
2. Aufl. Elberfeld 1875, Fridcrichs. (VIII, 100 S. gr. 8.)
M. t. 20. —

Die Belebung des philofophifchen Studiums ift für
die Theologie, aber nicht für fie allein eine Lebensfrage:
darum mufs man fich freuen, wenn auf den Gymnafien
ein Leitfaden für den propädeutifchen Unterricht wie der
vorliegende ah Verbreitung gewinnt, der in ganz andrer
Weife als die Ariftotclifchen Elemente und nach den ver-
fchiedensten Seiten hin das Intereffe zu wecken und einfache
, aber durchfchlagende Gedanken zum Bewufstfein
zu bringen im Stande ift, Gedanken, von denen zu hoffen,
dafs, wer fie aufgenommen, ,fie wieder aufzugeben weder
eine Veranlaffung aufser fich noch einen Trieb in fich'
fühlen werde. Dabei ift der Verf. fo wenig beftrebt,
direct für das Syftem Lotze's, in deffen Bahnen er geht,
Schule zu machen, dafs es uns fcheinen will, als hätten
Lotze's durchfchlagende Conceptionen, die in der Lehre
vom Begriff ziemlich zur Geltung kommen, den aus
Drbal und Drobifch entnommenen Stoff der Lehre vom
Urtheil und die Mill entlehnten Sätze der induetiven
Logik noch ganz anders umgeftalten dürfen und müffen.
Solch' ein fruchtbarer Gedanke ift Lotze's Unterfchcidung
der vier Regeln, nach denen die jedesmalige logifche
Subftanz des Begriffes das Gefüge der Merkmale deter-
minirt, der Gedanken des Etwas, der Befchaffenheit,
des Werdens, des Verhältnifses. Dagegen fcheint uns
das Gefetz des zureichenden Grundes in feiner Apriorität,
wie es Princip genereller, nicht blofs univcrfaler Urtheile
ift und wie es ftreng und comparativ allgemeingültige
Refultatc von Induction und Analogie allein ermöglicht,

gegenüber den Regeln formaler Gedanken-Combination
zu fehr zurückgeftellt. Dafs Induction und Analogie mit
Rückficht auf die moderne Naturforfchung eingehend behandelt
find, ift ein grofser Vorzug des Buches. Päda-
gogifch werthvoll find durchweg die den $ fchliefsenden
wiederholenden, erläuternden, weiterführenden Fragen.

Einen befonders reichen, wohl eine Auswahl fordernden
, das Intereffe der Schüler in hohem Mafse anregenden
Stoff enthält die Pfychologie und die Ethik.
Von durchgreifender Wichtigkeit ift hier die Unterfchei-
I dung der theoretifchen Geiftesthätigkeit, welche nach der
Summe der wirkenden Urfachen fragt, von der andern,
welche von jener unabhängig Werthurtheile ausfpricht.
Die Pfychologie hält fich möglichft vorfichtig in den
Grenzen des Thatfächlichen. Nach Aufzeigung derEigen-
j thümlichkeit der pfychifchen Erfcheinungen werden die-
I felben nach genetifcher Methode erörtert: Sinnesempfindung
, Vorftellung, Affociation und Reproduction der
Vorftellungen, die Formen des beziehenden Wiffens, zu
deren Erklärung mit Lotze über die mechanifche Wech-
felwirkung der Vorftellungen auf dem Schauplatz der
Seele hinaus eine neue Bethätigung der Seele ftatuirt
wird, Apperception, Gefühle, die wiederum mit Lotze
als urfprüngliche Akte der Seele gefafst werden, Bewegungen
, — um erft dann aus der Einheit des Bewufst-
feins die Exiftenz einer einheitlichen Subftanz als des
Subjectes diefer Erfcheinungen zu erweifen. Anregend
ift auch die Betrachtung der Sprache nach Steinthal.

Die Ethik fchliefst fich vielfach eng an Lotze's
Vorlefungen über praktifche Philofophie an und hat vielleicht
den unbeabfichtigten Erfolg, das theologifche Vor-
urthcil zu zerftören, dafs Lotze als ,Herbartianer' eine
,atomiftifche' Ethik lehre. Nach Darlegung des apriori-
fchen Charakters des ethifchen Urtheils, der doch mit
feiner gefchichtlichcn wie individuellen Entwicklung nicht
in Widerfpruch fleht, und kurzer Skizzirung der antiken
Moralfyftemc werden die fittlichen Ideen durch eine
Analyfe des Handelns gewonnen. Aus dem Verhültni s
des Handelns zu den Motiven ergeben fich die Forderungen
der Wärme des Gemüthes ihnen gegenüber, der
Vielfcitigkcit des Intereffes und der richtigen Abftufung
desfclben; das Handeln felbft gefällt, wenn es vielfeitig,
beharrlich, überzeugungstreu ift; anläfslich der gegen-
ftändlichen Natur des Handelns ift die Grundforderung
die des Wohlwollens, aus dem als zu feiner Ausübung
und Abftufung nothwendig die Ideen des Rechts und
der Vergeltung abgeleitet werden; an die Perfönlichkeit
endlich, welche Subject des Handelns ift, werden die
Anforderungen confequenter Gefinnung, kampflofer Harmonie
mit fich in Ausübung des Guten, der Individualität
geftcllt. Ift die III. Gruppe die inhaltliche, die übrigen
formell, fo ift in der III. wiederum das Wohlwollen die
beherrfchende Idee und fomit die fittliche Centraiidee
überhaupt, die im handelnden Geilte aber nur in jenen
Formen ihre volle Verwirklichung finden kann. — Für
die Freiheit wird ohne metaphyfifche Entfcheidung ein
Mittelweg zwifchen Determinismus und liberum arbitrium
gefucht. Ebenfo mafsvoll hält fich zwifchen Radikalismus
und fchlechtem Confervativismus die kurze Behandlung
der zu ethifirenden Naturverhältnifse.

Die Aufnahme der Ethik und einer fo geftalteten
Ethik in den Lehrftoff der Propädeutik ift ein befonders
glücklicher Griff. Für ethifche Fragen hat der Jüngling
weit mehr Intereffe als für logifche, die Erhebung des
Kreifes der ethifchen Grundfätzc zum Bewufstfein ift eines
der beften Güter, was er von der Schule mitnehmen
i kann, diefe nicht auf Metaphyfik gegründete Ethik ift keine
Präoccupirung zu Gunften eines beftimmten philofophifchen
Syftems.

Torgau. J- Gottfchick.