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Ausgabe:

1876 Nr. 12

Spalte:

316-319

Autor/Hrsg.:

Krauss, Alfr.

Titel/Untertitel:

Das protestantische Dogma von der unsichtbaren Kirche 1876

Rezensent:

Ritschl, Albrecht

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Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 12.

316

— da die Auffaffung des Abendmahles als eines Be-
kenntnifsactes der Partikularkirche hinzutritt — die nicht-
römifche Kirche demnach als Partikularkirche auftreten
läfst. Wie ift es nun Flacius und Genoffen möglich geworden
in dem Streite mit Melanchthon fich auf Luther
und deffen Auctorität zu berufen? Auch dazu hat Mel.
in aller Unbefangenheit durch die dankbare Anerkennung
der Bedeutung Luther's Veranlaffung gegeben. — Uie
in diefer Darfteilung behandelte Frage ift von grofser
Tragweite, von gröfserer vielleicht, als es manchem Lefer
fcheinen wird, he ift auch mit derfelben noch nicht ab-
gethan und fordert von felbft zu weiterer Verfolgung auf.
Aber Ritfehl, der bereits früher darauf hingedeutet hatte,
hat das Verdienft, den Weg gezeigt zu haben, auf welchem
zu einer Entfchcidung gelangt werden kann. Nur freilich
, wenn fein Verfahren im höchften Grade inftruetiv
ift, fo wird das fchwere Gepäck, das dabei getragen
werden mufs, zuweilen zur Üeberfracht, oder, um ein
anderes Bild zu gebrauchen, der Werth der gehobenen
Schätze fällt weniger in die Augen, wenn man zu genau
auf die Mafchine achten mufs, die fie hebt.

Eine mufterhafte kritifcheUeberhcht über die kirchen-
hiftorifchen Arbeiten im Jahre 1875 bis zum Concil von
Nicaea liefert Harnack. Für Theologen, die mit der
wiffenfehaftlichen Fortbewegung nicht im directen Zu-
fammenhange bleiben, ift diefer Auffatz vielleicht das
Werthvollfte, was das vorliegende Heft enthält. Es
werden in fünf Abfchnitten von dem apoftolifchen Zeitalter
an die wichtigften Publicationen angegeben, ihre
Stellung zu den Hauptfragen bezeichnet, ihr Werth be-
ftimmt. Dies gefchieht in fo belebter, aber auch fo
objectiver Weife und mit fo ficherer Beherrfchung des
bunten Stoffes, dafs man das Gefühl erhält, vollftändig
und gut orientirt zu werden. Hoffentlich bringen die
nächften Hefte, als Fortfetzung der dankenswerthen Zu-
fammenftellung, eine ähnliche Ueberficht über das Mittelalter
.

In den Analekten weift Tfchackert nach, dafs
Goldaft die Dialoge de quaerelis Franciae und de jure
successionis utrorumque regum in regno Franciae mit Unrecht
dem Peter von Ailli zufchreibt. Zwar find fie von
einem Cleriker, auch von einem Franzofen, und augen-
fcheinlich zwifchen 1413 bis 15 verfafst, doch flammen
fie nicht von der Hand des Bifchofs von Cambray.
Georg Voigt berichtet über den Wittenberger Druck-
Corrector Chriftoph Walter und entwirft bei diefem
Anlafs ein allgemeines Bild über die typographifche In-
duftrie Wittenbergs und ihre Vertreter zur Zeit Luther's,
ein Schreiben Walter's an Andreas Aurifaber wird mit-
getheilt. Zur Gefchichte endlich der Proteftantenverfol-
gung in Frankreich liefert Arnold Schäfer einen Beitrag
für die Zeit Ludwig's XV., indem er die Hauptpunkte
der Inftruction auszieht, welche dem duc de Richelieu bei
der Uebcrnahme des Amtes als Gouverneur von Guycnne
mitgegeben ward.

Wir haben den Inhalt des Heftes cinigermafsen genau
angegeben, weil uns daran lag unfere Befriedigung über
das Inslebentrctcn der Zcitfchrift zu begründen. Nicht
immer wird fie Gleichbedeutendes bringen können. Allein
ihre befondere Stellung, dafs fie fich losfagt von obfo-
leten Parteiftandpunkten — was fie freilich als hiftorifche
am leichterten kann —, dafs fie Profanhirtoriker zur Förderung
ihrer Wiffenfchaft heranzieht, giebt ihr in unferen
Augen für die gefammte Theologie eine hervorragende
Wichtigkeit. Ift doch hier ein Zufammenwirken bisher
getrennter Kräfte ebenfo nöthig, wie für ein neues Leben
in der proteftantifchen Kirche überhaupt die vereinte
Arbeit von Dienern der Kirche wie Laien gefordert
werden mufs. Wir wünfehen von ganzem Herzen dem
Redacteur Ausdauer und der Zeitfchrift felbft recht viele
Freunde.

Halle. O. Nafemann.

Krauss, Prof. Dr. Alfr., Das protestantische Dogma von
der unsichtbaren Kirche. Gotha 1876, F. A. Perthes.
(VI, 290 S. gr. 8.) M. 6. —

Das Intereffe, welches die proteftantifche Theologie
zu der Diftinction. geführt hat, die in dem Titel angedeutet
ift, bezeichnet der Verf. S. 222: ,Nur in dem
Mafse, als der Proteftant in der fichtbaren Kirche die
unfichtbare wahrzunehmen im Stande ift, kann er fich
bei feiner Kirche beruhigen. Zu diefem Ende betrachtet
er die Kirche mit den Augen des Glaubens'. Diefe
Bedingung gilt für alle theologifchen Lehren; man mufs
fich aber diefelbe fehr gegenwärtig halten, da alle Objecto
der Glaubenslehre unter einer andern Betrachtungsweife
eine ganz abweichende oder gar widerfprechende Werth-
fchätzung erfahren. Diefelbe fällt in Beziehung auf den
Stoff verfchiedener Glaubenslehren theils in verfchiedene
Arten von Subjccten, theils in däsfelbe gläubige Subject.
Die Abftufung diefer Fälle ift diefe, dafs für einen
Atheiften der Gedanke von Gott gar nicht gilt, für
Ariftoteles aber als etwas anderes wie für den gläubigen
Chriften. Für den Weltmenfchen gilt die Sünde als
eine mehr oder weniger bedenkliche Unart der Einzelnen,
für den gläubigen Chriften als gemeinfames Verderben
aller Menfchen. Jefus gilt für feine zeitgenöfsifchen Gegner
als der Gottesläfterer, für Straufs als einer der Portbildner
des Menfchheitsideals, für den Chriften als der
Träger der erfchöpfenden Offenbarung Gottes und als
der Heiland. Die Kirche fieht mancher politifch Radi-
cale für eine ftaatliche Polizeianftalt an, der Chrift als
die Heilsanftalt refp. als die Heilsgcmcinfchaft. Es ift
aber dcrfelbe proteftantifche Chrift, welcher in diefen
Beziehungen feine Angehörigkeit zur Kirche abwcqhfelnd
nach dem rechtlichen, dem fittlichen, dem rcligiöfen Ge-
fichtspunkt ganz verfchieden beurthcilt. Aus dem Ab-
ftande des letztern von den beiden erften entfpringt die
Unterfcheidung zwifchen der unfichtbaren und der fichtbaren
Kirche. In dem erften der drei Theile (das Dogma
von der unfichtbaren Kirche in der proteftantifchen Lehr-
entwickclungi beftätigt nun der Hr. Verf. die Ergebnifse,
welche ich in einer Abh. in den Theol. Stud. u. Kr.
1859 gewonnen hatte. Einmal nämlich denkt Zwingli die
unfichtbare Kirche als die Gefammtheit der Glaubenden,
welche in Einem Geifte verbunden und nur Gott bekannt
find. Davon unterfcheidet er die fichtbare Kirche theils in
der Anfchauung der conftituirten Localgemeinde i Kirchhöre
), theils als die Gefammtheit derer, welche irgend
wie durch Bekenntnifs und Theilnahme an den Sacra-
menten fich als Chriften zu erkennen geben. Luther hingegen
denkt die Gemeinfchaft der Gläubigen überhaupt
nur fo, wie fie durch Wort Gottes und Sacramente entlieht
und fich bemerklich macht. Diefe nothwendig fichtbare
Kirche fetzt er aber als unfichtbar, fofern ihre richtige
Schätzung Sache des Glaubens, diefer jedoch eine
Gewifsheit von Unfichtbarem ift. Zu diefer Beobachtung
kommt nun aber die andere, dafs die orthodoxe Theologie
nicht blos der Reformirten, fondern auch der Lutheraner
den Typus Zwingli's fortfetzt, nachdem Melanchthon
den Gedanken der unfichtbaren Kirche überhaupt abzuweisen
unternommen hatte. Die Thatfache, dafs die
Lutheraner auf diefem Punkt nicht mit Luther, fondern
mit Zwingli gehen, weifs ich ebenfowenig wie der Hr.
Verf. zu erklären. Ich erlaube mir blofs anzuführen, dafs
unter den Lutheranern fchon Andr. Ofiander in der ,Vcr-
theidigung wider die von den Römifch-Katholifchen überreichten
Artikel' während des Reichstags zu Augsburg
1530 verfafst, in der Walch'fchen Ausgabe von Luther's
W. XVI, S. 1775. 1780) die möglichfte Ucbereinftimmung
mit Zwingli kundgiebt. Ob jedoch eine Verbindungslinie
von ihm bis auf die Schwaben Heerbrand und Hutter
hinabreicht, habe ich bisher nicht ermitteln können. Wie
dem nun fein mag, fo urtheilt der Hr. Verf. über den im
Allgemeinen Zwingli'fchen Typus der Lehre nicht günftig.