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Ausgabe:

1876 Nr. 11

Spalte:

296-301

Autor/Hrsg.:

Seyler, Gotth.

Titel/Untertitel:

Materialien zu einer Revision und Reform des Bekenntnissstandes der protestantischen Kirche im Deutschen Reiche 1876

Rezensent:

Köhler, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. II.

296

auseinander'. Allerdings tadelt Servet mit grofser Bitterkeit
und nicht ohne Recht die willkürliche Exegefe
der Gegner, aber wenn er felbft zunächft nur dem Wiedergebornen
, d. h. demjenigen, der feine Lehre annimmt,
die Fähigkeit der Schriftauslegung zufchreibt, ferner einen
äufsern und innern Sinn oder gar eine ßfache Bedeutung
des A. T. annimmt und auch das N. T. auslegt, nicht
wie die Worte es fordern, fondern, wie es feinen eigen-
thümlichen Anflehten pafst, — ift da nicht eine Willkür
an die Stelle der andern getreten? Und hält der das A.
und N. T. gefchichtlich auseinander, der nicht müde wird,
zu behaupten, dafsbeideEinen und denfelbenInhalt haben,
jenes verhüllt, diefes unverhüllt, und der nach Art
heutiger Theologen für einen Satz Beweife anführt aus
der ganzen Bibel von der Gencfis bis zur Apokalypfe?

Durchaus zuftimmen können wir dem Verf., wenn
er Servet's Syftem c hriftocentrifch nennt und hervorhebt
, dafs Servet den Menfchen Chriflus, Luther
den Gott Chriflus befonders betont. Wenn aber der
Verfaffer dazu fortgeht, zu behaupten (p. 15), Servet
,faffe die Theologie chriftocentrifch', ,vereinige durch die
anthropologifche Behandlung der Theologie als Spanier
den Orient und Occident', oder gar (p. 16) ,Aus der
biblifchen Chriftologie baut er das Himmelreich, den ge-
fammten chriftlichen Glauben auf, und was mit der
biblifchen Chriftologie fich nicht zufammenreimt, das fegt
er aus, und wäre es der philofophifche Unrath von Jahrhunderten
', — fo müffen wir entfehieden proteftiren.
Servet's Chriftologie ift nicht die biblifche, hat mit diefer
vielmehr nur den Gegenfatz gegen die Zwei - Naturen-
Lehre der Kirche gemein, ferner ift nicht die Theologie
von der Chriftologie beeinflufst, fondern gerade umgekehrt
, die Theologie auf rein philofophifchem Wege
gewonnen, und die Chriftologie nur aus ihr zu verliehen,
und überdies durchaus nicht das ganze Lehrgebäude aus
der biblifchen Chriftologie entwickelt ohne irgendwelche
Philofophie, fondern im Gcgentheil, das Syftem ohne
die philofophifchen Grundfätzc, befonders die Ideenlehre,
die Erkenntnifstheorie, den Dualismus von Himmlifchem
und Irdifchem, die Annahme der 4 Elemente, völlig un-
verftändlich.

Doch auch Servet's Chriftologie und die daraus con-
fequent abgeleitete Lehre von der Heilsaneignung und
der Gotteskindfchaft der Gläubigen hat der Verf. unfers I
Erachtens durchaus unrichtig aufgefafst. Wenn der Verf. 1
p. 14 Servet ,alle Tugenden der Chriftenheit im ethifchen
Chriftus, den Gott geheiligt und mit ewigem Leben be- •
dacht hat, centralifiren', ,den göttlichen Menfchen Jefus ;
als den allein ganzen, vollen Menfchen, als den Central-
menfchen der Jahrhunderte, das Centralwefen des Alls
proklamiren', p. 33 ,die Vergottung der Creatur eine
ethifch-fpirituelle', ,die Vergottung der Welt in Chrifto
dynamifch-ethifeh vermittelt' nennen läfst, fowie p. 34 ,
Jefus als ,das ethifche Centraiorgan der göttlichen Gnaden
', p. 36 den Zufammenhang des Menfchen Jefus mit
Gott als einen ethifchen, ,ein aus Gnade zum Lohne dem
gefchenktes Gut, der gehorfam gewefen ift bis zum Tode ;
am Kreuz' bezeichnen, — fo ift kein Zweifel, dafs er
die Gottmenfchheit Chrifti, fowie die durch den Glauben I
an ihn vermittelte Vergottung der Menfchen nach Servet I
(vielleicht gar als VorläuferRothe's?) ethifeh vermittelt fein [
läfst. Wie wenig richtig aber ift das! Das Centralwefen
des All, das Centraiorgan der Gnaden kann man immerhin
Servet Chriftum nennen laffen, ift ihm doch das in
Chrifto erfchienene Wort die Idee aller Ideen, das Meer
der Ideen, der Schöpfer aller Dinge, und ebenfo alle
Gnade und Offenbarung nur durch Chriftum vermittelt.
Ja, Servet fagt {Rest. p. 129) felbft ,von der fubftantiellen, |
ungemeffenen Mittheilung Gottes in Chrifto omnes alii ,
pendeiit ut a stipitc rann, a radice suixnli, a vite palmites1, >
— aber Jeder mufs zugeben, dafs er diefen Gedanken
weder klar denkt, noch im Einzelnen durchführt. Dafs
die fubftantielle Mittheilung Gottes nur im Menfchen erfolgen
konnte, wird zwar von Servet oft genug behauptet
, aber zu beweifen nirgends verfucht; in Wahrheit hätte
auch nach S.'s Syftem Gott ebenfogut in jedem beliebigen
Ding fich mittheilen können, wie im Menfchen, fo dafs
die Gottmenfchheit Chrifti durchaus keine ,wefentliche'
ift. Ebenfowcnig ift fie ,ethifeh vermittelt'. Die Möglichkeit
diefer ethifchen Vermittlung findet fich nur in
der älteften, aber auch damals nicht confequent durchgeführten
Form der Servetifchen Chriftologie, wonach die
Gottheit Chrifti nur in den dem Menfchen mitgetheilten
göttlichen Eigenfchaften befteht, — aber auch hier find
diefclben nicht Lohn für Gehorfam. Später, wo Servet
den Gottmcnfchen mit und durch die Zeugung entflohen,
die Idee Chrifti als höchfte Idee von Ewigkeit her das
erfcheinende Bild Gottes fein und als Wort alle Dinge
fehaffen läfst, ift für eine folche Vermittlung nicht einmal
Raum. Noch weniger ift das Heil ethifeh vermittelt.
Die Vergottung der Gläubigen ift keine ethifche, fondern
eine durch Glauben, Taufe und Abendmahl vermittelte
phyfifch-metaphyfifche Umwandlung der irdifchen Elemente
in himmlifche; auch der Glaube, obgleich Act
des Wollens und von einem Act des Intellectes nur
begleitet, wird oftmals [Rest. p. 300 sq., p. 630) auf die
Gnadenwirkung Chrifti und des hlg. Geiftes zurückgeführt,
und auch da, wo er als freie That des menfehlichen
Willens bezeichnet wird (p. 300 sq.), ift dazu befondere
göttliche Erleuchtung nöthig; die Werke aber haben auf
die Erlangung des Heils keinen Einflufs. — Wir kommen
deshalb zu dem Refultat, dafs Servet auf allen Punkten
feines Syftcms das Ifthifche ungebührlich vernachläf-
figt hat.

Aus dem Gefagten folgt, dafs wir auch dem Cap. II
über Servet's Stellung zu Luther's ,de servo arbitrio',
Cap. III und IV über Luther's Zufammentreffen mit
Servet Gefagten nicht zuftimmen können. Doch würde
es zu weit führen, dies näher darzulegen.

Wünfchen können wir nur, dafs der Verf. uns näch-
ftens als die reife Frucht feiner langjährigen und eingehenden
Servet-Studien eine Darfteilung desLehrfyftems
diefes grofsen Denkers vorlegen möchte, und freuen
würde es uns, könnten diefe Zeilen dazu beitragen, es
objectiver und richtiger erfcheinen zu laffen.

Jena. Bernhard Pünjer.

Seyler. Pfr. Gotth., Materialien zu einer Revision und
Reform des Bekenntnissstandes der protestantischen Kirche
im Deutschen Reiche. Gotha 1875,F. A.Perthes. (XXXVII,
551 S. gr. 8.) M. 9. -

Einen Knecht Chrifti, Sohn Luther's und Schüler v.
Hofmann's nennt fich der Verf. diefes Werkes (S. 9). Er
aeeeptirt beftens das ihm gewordene Zeugnifs, dafs er
der Vermittelungstheologie nicht angehöre (S. icfi, und
ift der Meinung, der Rationalismus als wiffenfehaftlich
überwunden könne heute bei jüngeren Theologen, welche
ihm huldigen, nur noch aus Unglauben und Abfall ent-
ftehen (S. 120). Von einem inhaltlichen Widerfpruch
gegen die Symbole ift er fo weit entfernt, dafs er felbft
von der Concordienformel urtheilt, diefelbe vertheidige
gegenüber einem wirklichen Angriffe die chriftlichen
Grundthatfachen' (S. 45). Wenn ein Theologe diefer
Geiftesart und Richtung auf eine Revifion des Bekennt-
nifsftandes dringt, fo ift für Jeden, der nicht befangen
urtheilt, der Verdacht von vorn herein ausgefchloflen, als
rede hier die frivole Luft am Verneinen und Zerftören
und nicht ein tiefes inneres Wahrheitsbedürfnifs. Das
ehrliche proteftantifche Gewiffen, dies fühlt man aus
allen Auseinanderfetzungen des Verf. heraus, reagirt in
ihm gegen jene haltlofen theologifch-juriftifchen Reftau-
rationstendenzen, welche eine Zeit lang unfere kirchliche
Entwickelung beherrfcht haben und fie noch immer mächtig
becinfluffen.