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Ausgabe: | 1876 |
Spalte: | 293-296 |
Autor/Hrsg.: | Tollin, H. |
Titel/Untertitel: | Dr. Martin Luther u. Dr. M. Servet. Eine Quellen-Studie 1876 |
Rezensent: | Pünjer, Bernhard |
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Theologifche Literaturzeitutig. 1876. Nr. 11.
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Trithemius, bieten manchen Häuflein für die noch zu
fchreibende Gefchichte des Humanismus in Deutfchland
und laffen Blicke thun in die wiffenfehaftlichen Zuftände
des letzten Jahrzehnts im 15. und des erften im 16. Jahrhundert
.
Das 2. Heft von 1875 enthält intereffantc Einzelheiten
, mciflens aus ziemlich vcrfchollcnen Druckfchriften
entnommen. In der erften Abtheilung macht es wieder
Mittheilungen über Alex. Hegius und feinen Briefwechfel,
z. B. mit Rudolph Agrikola, in der zweiten über Jofeph
Horlenius aus Siegen, in der dritten über Jofeph Mur-
mellius, den bedeutendften Münfterfchen Humaniften.
Unter diefen ift hervorzuheben ein Brief Hugcnhagen's
an M. vom 23. April 1512 und ein Brief Spalatin's vom
7. Juli 1512, endlich auch die von diefem als Bakkalaureus
am 18. Jan. 1503 in Wittenberg gehaltene kurze Dankrede
. —
In gröfsere Kreife wird begreiflich die hier befprochene
Veröffentlichung nicht dringen, aber Alle, welche fich mit
der Reformationsgefchichte und befonders dem Humanismus
etwas genauer befchäftigen, werden den Herausgebern
dafür dankbar fein. Ebenfolche darf ich bei diefer
Gelegenheit vielleicht auf einen neuen Auffatz Wattenba
eh's zur Gefchichte des Humanismus hinweifen. Er
heifst: .Samuel Karoch von Lichtenberg, ein Heidelberger
Humanift', und fleht in der Zeitfchrift für die Gefchichte
des Oberrheins, Bd. XXVIII, Heft 1. Sam. Karoch war
ein ähnlicher humaniftifch gebildeter Herumtreiber wie der
früher von Wattenbach gefchilderte Peter Luder.
Erlangen. Dr. G. Plitt.
Tollin, Prcd. Lic. H., Dr. Martin Luther u. Dr. M. Servet.
Eine Quellen-Studie. Berlin 1875, H. R. Mecklenburg
. (61 S. gr. 8.) M. 1. —
Wer die verfchiedenen, leider fehr zerftreuten Auf-
fätze gelefen hat, in denen der Verf. das Leben und
die vielfeitige, faft überall bahnbrechende Thätigkeit
Servet's mit feiten er Sachkenntnifs beleuchtet hat, wird die
Spannung begreifen, mit welcher Ref. die oben genannte
Schrift zur Hand nahm. Während nämlich Servet im Allgemeinen
ziemlich vergeffen ihr, zeigt uns der Verf. eine
insEinzelnfle gehende Kenntnifs feines Lebens, wie fie
nur bei Jemand möglich ift, der (p. 12) ,die fem merkwürdigen
Manne feit 17 Jahren nachgegangen ift auf
Schritt und Tritt etc.' Der Ref. gefleht gern, eine fo I
genaue Kenntnifs des Lebens Servet's nicht zu befitzen,
und wird deshalb feine Beurtheilung auf die Auffaffung
der theol. Bedeutung Servet's und feines Lehrfyftems be-
fehränken. Eine derartige Beurtheilung (zu welcher Ref.
feine nächftens im Buchhandel erfcheinende Promotions-
fchrift ,De Alicliaelis Servcti doctrina commentatio historico-
Jogmaticai wohl berechtigt) dürfte um fo mehr am Platze
fein, als der Verf. uns eine quellenmäfsigc Darftellung
des Servetifchen Lehrfyftems in nahe Ausficht ftellt, zu
deren Abfaffung heute vielleicht Niemand fo berufen ift,
wie er.
Um zunächft kurz den Inhalt der lebendig und voll
Begeiftcrung gefchriebenen Abhandlung zu recapituliren:
Nach einer Einleitung, in welcher die Richtung des freien
Gewiffens als dritte Reformation der protcst.-evgl. und
der trident.-kath., und ihr Vertreter Michael Servet mit
der Restitutio, dem Mclanchthon mit der Augustana und
dem Cardinal Morone mit den Tridentinis gegenüberge-
ftcllt, fowie das allgemeine Vcrgeffenfein diefes bedeutenden
Mannes beklagt wird, giebt der Verf. Cap. I .Servet
und Luther im Gegenfatz' eine kurze vergleichende
Gegenüberllellung diefer beiden Reformatoren, befpricht
Cap. II .Servet's Bekanntfchaft mit Luther und Stellungnahme
' S.'s Zufammentreffcn mit Lutheranern auf dem
Augsburger Reichstag, mit Luther felbft zu Coburg, fein
Studium der Luthcr'fchen Schriften .Thefen wider Eck',
I .Babylonifche Gcfangenfchaft', ,de senw arh'trto', feine
Zuflimmung zu den 2 erften, feinen Gegenfatz gegen die
letzte, die Art, wie er Luther voll Hochachtung erwähnt
und gegen ihn fehr würdig polcmifirt, Cap. III .Luther's
Bekanntfchaft mit Servet und chriftologifche Stellungen',
dafs Luther merkwürdig milde, meift ohne Nennung des
Namens und voll Anerkennung den Servet bcurtheilt,
dafs fogar Luther in feiner Weihnachtspredigt 1515
gleich Servet die Gottmenfchhcit in Chrifto nur ,als Initiative
für ein gläubiges Gottesgefchlecht' betrachtet habe
und beide nur in der nähern Beftimmung der Verweltung
Gottes und der Vergottung der Welt auseinander gehen,
wogegen Luther's Chriftologie fich fpätcr immer weiter
von derjenigen Servet's entfernt. Cap. IV .Servet's Ein-
flufs auf Luther in der Lehre von der Continuität und
der Toleranz' führt die bedauerliche Schwenkung Luther's
in diefen Punkten auf den Einflufs Servet's zurück, während
Cap. V .Luther's Kampf wider die Antitrinitarier'
behandelt und Cap. VI .Luther's unbewufstc Verhöhnung
mit der Chriftologie Servet's' zeigt, dafs .Luther's Lehre
vom Gcfchlecht der Gottmcnfchen unvollftändig fei ohne
Servet's Lehre vom göttlichen Urmenfchcn Chriftus und
ebenfo Servet's Lehre vom Erftling der Gotteskinder
unvollftändig ohne Luther's Lehre von den Gläubigen',
alfo beide bei gröfserer Confequenz hätten aufeinander
l ftofsen müffen.
Cap. IV und V wollen wir nicht näher beleuchten,
denn unferes Erachtens kann die Eragc, ob das bedauerliche
Dringen des fpäteren Luther auf die Tradition und
fein intoleranter Kampf gegen die Antitrinitarier nur nach
oder auch in Folge der Schrift des Servet fo fehr fich
gefteigert habe, mit Sicherheit nicht entfehieden werden,
wenn wir auch 'mit dem Verf. p. 6) diefe unevangelifchc
Schwenkung lange vor Servet (1531), nämlich fchon
1525 fetzen und deshalb auf andere Urfachen zurückführen
müffen. Geben wir im Ucbrigen die Hauptpunkte
an, in welchen unfere Auffaffung von derjenigen des
Verfaffers abweicht. In der Einleitung wird Servet als
Vertreter der 3. reformatorifchen Richtung, derjenigen
des freien Gewiffens, und als Stifter der biblifchen Theologie
oder als Bibel-Radikaler bezeichnet. Zunächft ift
das miteinander unvereinbar, da die Richtung des freien
Gewiffens, als dritte der proteft. und kath. gegenüberge-
ftellt, allgemein die Richtung bezeichnet, welche ohne
objective Norm, fci's Schrift, fei's Tradition, nur dem
innern Licht oder dem fubjectiven Gefühl folgen will,
während die bibl. Theologie die Schriftlehre zur höch-
ften Norm macht. Dafs auch jene die Uebereinftimmung
ihrer Lehren mit der Schrift zu erweifen fucht, oft durch
die willkürlichfte Excgcfe, ändert daran Nichts. Ferner
ift keine diefer beiden Bezeichnungen für Servet zutreffend
. Vertreter des freien Gewiffens will er nicht einmal
fein, beruft er fich doch an keiner Stelle auf ihm gewordene
Offenbarungen des hlg. Geiftes oder auf die natürliche
Gotteserkenntnifs, fondern will einzig und allein
die urfprüngliche Lehre Chrifti wieder herftellen. Daraus
folgt, dafs er biblifcher Theolog allerdings fein will, aber
wer Servet's Schriften liest, ficht fofort, dafs feine Schriftauslegung
nicht weniger willkürlich ift als diejenige feiner
Gegner; oder, genügt die Abficht, wollte Luther weniger
alle feine Lehren aus der Schrift herleiten? Oder wäre
die Stellung zur Tradition bei Servet und Luther wirklich
eine fo verfchiedenc? Jener erkennt die Tradition
bis zum Nicenum (allerdings ohne dasfelbe) an, diefer
die 3 erften Concilien, wo bleibt da der Unterfchied?
Daraus folgt fchon, wie wir darüber urtheilen, wenn
der Verf. p. 13 feine Gegenüberftellung Luther's und
Servet's damit beginnt, der durch Tauler, Auguftin,
Laurentius Valla etc. beeinflufsten Bibelerklärung Luther's
gegenüber zu fagen: .Servet erklärt die Schrift nur durch
die Schrift, das N. T. nur durch das N. T. etc., hält
gegenüber Luther's Incinanderflechtcn des A. und N. T.
des Gefetzes Reich und das Reich Chr. gefchichtiieh