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Ausgabe:

1876 Nr. 9

Spalte:

252-253

Autor/Hrsg.:

Vilmar, A. F. C.

Titel/Untertitel:

Predigten und geistliche Reden 1876

Rezensent:

Lindenberg, H.

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Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 9.

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und ,fo erhielt die Trauung am Ausgang des vorigen
Jahrhunderts eine Bedeutung, welche ihr bis dahin nie
zugekommen war; nicht blofs das Thatverhältnifs, fondern
auch das Rechtsverhältnifs der Ehe nahm mit ihr
feinen Anfang'.

Fragen wir jetzt, welche Confequenzen zieht der
Verfaffer aus diefem reichen, auf dem Wege hiftorifcher
Unterfuchung gewonnenen Material für die Stellung der
kirchlichen Trauung zur Civilehe, fo giebt uns hierauf das
Schlufscapitel eine unumwundene Antwort (S. 284—314).
Sohm meint, wenn ,der Trauung durch die Einführung
der obligatorifchen Civilehe die Function der Ehefchlies-
sung genommen werde', fo habe fie ,damit von ihrem
urfprünglichen Wefen nichts eingebüfst' (S. 284), da die
Trauung bis auf Boehmer niemals Ehefchliefsung gewefen.
Dagegen fordert er, dafs die Kirche fich nicht mit einer
Segnung der Ehe durch den Geiftlichen begnüge, dafs
der kirchlichen Trauung die ihr durch den Staat ent-
riffene ,urfprüngliche Bedeutung' zurückgegeben werde,
d. h. jene Bedeutung, die fie feit dem 13. Saec. dadurch
gewonnen, dafs der Priefter an Stelle des Vormunds
die Brautleute zufammenfprach.

Unter den Gründen, warum die Kirche den Trauungs-
act auch weiter allein für fich beanfpruchen foll, führt
Sohm auch den an, dafs der Civilact keine Trauungs-
handlung, fondern nur die Verlobung des deutfchen
Rechts darftellen, nicht den Beginn der Thatfächlichkeit
der Ehe, fondern nur die Ehefchliefsung bezeichnen will.
Aber follte es wirklich die Abficht des neuen deutfchen
Civilehe-Gefetzes gewefen fein, fich mit diefer ihm von
Sohm vindicirten fo fehr befcheidenen Stellung zu begnügen
? Wenn dasfelbe (§ 41, 43, 44 etc.) von einer
Ehefchliefsung vor dem Standesbeamten redet, fo könnte
man allerdings mit Sohm annehmen, dafs dem Civilact
zunächft blofs das Rechtsverhältnifs der Ehe, wie es
Inhalt der altdeutfchen Verlobung war, zugewiefen fei;
wenn es aber ferner ($ 48, 50, 69) von einem Vollziehen,
Vornehmen der Ehefchliefsung durch den Civilftands-
beamten fpricht, fo ift es klar, dafs der Gefetzgeber
hier von der modernen, an Boehmer fich anfchliefsenden
Auffaffung ausgeht, der gemäfs die Ehefchliefsung erft
bei der Trauung ftattfindet, und fomit kann man nicht
leugnen, dafs der Civilact ein Trauungsact zu fein be-
anfprucht. Die von Sohm beliebte Auslegung der
$ 48, 50, 69 (S. 285, A. 3) ift gezwungen. Auch der
Umftand, dafs alle Rechtswirkungen in Bezug auf die
eheliche Gütergemeinfchaft und das eheliche Erbrecht,
welche ftets erft von der Trauung her datiren, jetzt an
den Civilact gebunden find, ift ein unwiderleglicher Beweis
, dafs letzterer jedenfalls als eine bürgerliche Trauung
angefehen werden mufs.

Will man im deutfchen Rechte eine Analogie für
den Civilact fuchen, fo bietet fich uns von felbft die
bis zum 13. Jahrhundert auch kirchlich anerkannte Laientrauung
durch den geborenen oder gekorenen Vormund
an, nur mit dem Unterfchiede, dafs die alte Laientrauung
nur den Ehebethätigungswillcn, die andere fowohl den
Ehebethätigungswillen als auch den Ehefchliefsungs-
willen declarirt. Wenn Sohm ferner die kirchliche Handlung
deshalb nicht auf eine Segnung der Neuvermählten
reducirt fehen will, weil ,die Trauung zu den ethifchen
Gütern zählt, welche die Kirche im Laufe der Jahrhunderte
erworben hat' (S. 306), fo gehört doch auch die
Auffaffung von der kirchlichen Trauung als Act der Ehefchliefsung
zu den augenblicklichen Gütern der Kirche,
und doch opfert Sohm diefelbe und zwar nur deshalb
auf, weil fie dem urfprünglichen Gedanken des deutfchen
Rechts nicht entfpricht. Erklärt der Verfaffer,
dafs man an dem Althergebrachten fefthalten müffe, fo
urtheilt die Partei confequenter, die fich dadurch, dafs
erft Boehmer dieTrauung zumEhefchliefsungact gemacht,
nicht beirren läfst, fondern weil fie im Befitze eines ehe-
fchliefsenden Trauungsactes bisher gewefen, auch ferner

den ehefchliefsenden Charakter der kirchlichen Trauung
gewahrt fehen will. Wenn aber Sohm von der zuletzt in
der Kirche geltenden Auffaffung von der Trauung zu
Gunften der alten deutfch-rcchtlichcn Anfchauung abweicht
, fo ift nicht einzufehen, warum er gerade bei jener
erft im 13. Jahrhundert auftretenden Trauung durch den
Geiftlichen flehen bleiben will, obwohl 12 chriftliche
Jahrhunderte diefe Form der Trauung nicht gekannt und
obwohl das iö.Jahrhundcrt, Luther an der Spitze (S.238 f.),
die Berechtigung und Geltung der Laientrauung zunächst
nicht beanftandet hat. Es will uns Rheinen, als ob der
Verfaffer vergehen hätte, dafs er felbft — nachdem er
nachgewiefen, wie der Priefter in die Stellung des Vormundes
bei der Trauung hin und wieder eintrat und die
Kirche auf Grundlage diefer dem Priefter gewährten Ver-
günftigung den Anfpruch auf alleinige Vollziehung der
Trauung erhob — den Satz aufgehellt, dafs der Priefter
! und die Kirche nur ,eine an fich nicht geiftliche
Gewalt', ,eine Gewalt weltlichen Inhalts' und
,weltlichen Rechtsgrundes' (S. 168) fich damit angeeignet
haben. Verhält es fich fo, dann kann auch
diefe weltliche Gewalt von dem Staate, dem die Ordnung
der weltlichen Dinge obliegt, der Kirche, welche fich
diefelbe unter den günftigen Bedingungen ihrer mittelalterlichen
Herrfchaft erobert hatte, wieder entzogen
werden. Eins aber kann der Staat der Kirche nicht
gebieten, ihre fegnende Hand auch über folchc Brautpaare
auszubreiten, die fich nach Auffaffung der Kirche diefes
Segens unwürdig gemacht haben. In dem Wunfche,
dafs der Kirche bald diefe drückende Feffel abgenommen
werden mag, weifs fich Recensent mit Sohm eins, wenn
er auch gern gefehen, dafs diefes Verlangen in einer
fachgemäfsern Sprache, als fie vom Verfaffer im Nachtrag
(S. 322 ff.) beliebt worden, vorgebracht wäre.

Strafsburg. R. Zoepffel.

Vilmar, weil. Prof. Dr. A. F. C., Predigten und geistliche
Reden, Marburg 1876, Elwert's Verl. (VI, 185 S. gr. 8.)
M. 2. 40.

Das in Nr. 3 diefer Zeitung über Vilmar bei Gelegenheit
der Befprechung feiner Vorlefungen über Dogmatik
gefällte Urtheil findet auch auf feine Predigten und geistl.
Reden grofsentheils Anwendung. Wie auch, ,von der Parteien
Gunft und Hafs verwirrt', fein Bild in der Gegenwart
noch fchwankt, das müffen Gegner und Anhänger
ihm zugeftehen, dafs er ein ganzer Mann war, der feine
gefchloffene, scharf ausgeprägte Ueberzeugung auf der
Kanzel wie auf dem Katheder mit rückfichtslofer Offenheit
und Treue ausgefprochen hat. Vilmar's Predigten
find Zeugnifse von einem chriftlichen Leben, wie es unter

: der Form des ftrengen evangcl.-luth. Bekenntnifses in ihm

1 Geftalt gewonnen hatte. Ob er von ,dem Frieden des
Herrn Jesu Chrifti' (IV) oder von ,dem Kampf des Chri-
ften in unferer Zeit' (I) redet, ob er ,die Herrlichkeit der
Erlöften und Gläubigen' (VII) oder ,die chriftliche Hoffnung
' (IX) befchreibt: immer fühlt es der Lefer durch,
dafs das, wovon der Redner zeugt, ganz und vollkommen

i in ihm lebt. Und darin vor Allem liegt der mächtige
Eindruck, den diefe Predigten machen und dem fich auch
diejenigen nicht werden verfchliefsen können, die gegen

' V.'s Sacramentsbegriff, wie er S. 55—58 hervortritt, oder
gegen feinen Amtsbegriff, wie er in einer Einführungsrede
S. 163 ausgefprochen wird, oder gegen einzelne paradoxe
Aeufserungen, wie z. B. S. 126: ,Glauben heifst: auf das
Beftimmtefte wiffen, dafs mir meine Sünden vergeben find',
Bedenken erheben möchten. Unter den 6 geiftlichen
Reden, die den 9 Predigten der Sammlung beigegeben
find, verdient befonders die durch ihre grofsartige Einfachheit
ergreifende Rede am Grabe feines Vaters hervorgehoben
zu werden. Von hiftorifchem Intereffe ift die
zur dritten Säcularfeier der Augsb. Confeffion 1830 im