06.11.2013

»Damit die Kirche im Dorf nicht alt aussieht. Religiöse Bildung in der Peripherie« – Bericht von der Tagung der »Forschungsstelle Religiöse Kommunikations- und Lernprozesse« an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Halle (Saale) am 9. Oktober 2013

Die im Jahr 2011 gegründete Forschungsstelle Religiöse Kommunikations- und Lernprozesse an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg war Gastgeber der Tagung »Damit die Kirche im Dorf nicht alt aussieht. Religiöse Bildung in der Peripherie«, an der nicht nur junge Nachwuchswissenschaftler/innen teilnahmen, sondern auch zahlreiche Verantwortliche in den Kirchengemeinden im Haupt- und Ehrenamt.
Die Forschungsstelle widmet sich der Entwicklung religiöser Kommunikations- und Lernprozesse an der Schnittstelle von institutioneller Religion und individueller Religiosität unter den Bedingungen vorherrschender Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland.
Wie Prof. Dr. Michael Domsgen, Religionspädagoge an der Theologischen Fakultät und Leiter der Forschungsstelle, in seiner thematischen Einführung hervorhob, widme sich die Tagung dem ländlichen Raum als »Lernort des Glaubens«. Nicht immer ist das Dorf als Ort religiösen Lebens und Lernens Gegenstand wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gewesen. Doch in jüngerer Zeit lenkten vor allem die demographische Entwicklung und die Herausforderungen im säkularen Kontext Mitteldeutschlands die Blicke auf sich. Darum muss nach Perspektiven für die religiöse Bildungsarbeit in der Peripherie gefragt werden.
Anschauliche Beispiele zum Thema »Vor Ort. Konkretionen aus der Provinz« lieferte der Religionspädagoge Prof. Dr. Frank M. Lütze (Leipzig). Kirchengemeinden auf dem Land werden ihre Arbeit in den nächsten Jahren vielfach neu ausrichten müssen. Pfarrer/innen werden in Zukunft verstärkt pädagogische Arbeit leisten und Ehrenamtliche anleiten. Die Ehrenamtlichen werden die Kirche künftig deutlich mehr eigenverantwortlich gestalten. Lütze gab anschauliche Beispiele von gelungenem ehrenamtlichen Engagement in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und der Anhaltischen Landeskirche, vorrangig aus dem Bereich der Kinder- und Jugendarbeit. Die Arbeit mit Gruppen der Pfadfinder beispielsweise setzt klare christliche Impulse, aber im Mittelpunkt steht das Gemeinschaftserleben, weshalb viele Kinder aus kirchenfernen Familien erreicht würden. Diese Praxisbeispiele konnte Dr. Gerald Kretzschmar (Mainz) in seinem Vortrag »Religiöse Bildung kann gelingen – auf dem Land und andernorts« mit praktisch-theologischen Betrachtungen ergänzen.
Als Reichtum der Tagung erwies sich, dass nicht nur Theologen miteinander im Gespräch waren. Der Geograph Dr. Karl Martin Born (Vechta) wies in seinem Vortrag zum Thema »Das Dorf in der Peripherie. Umrisse eines Residualortes« darauf hin, dass die Hälfte der rund 400 Landkreise in Deutschland als »ländlicher Raum« zu definieren sind. Insofern ist kirchliche Arbeit auf dem Land in der Tat kein Nischenthema. Kulturhistorisch kommt dem Dorf der Wert als »Bewahrer überkommener Lebensweisen und Praktiken (Identitätsraum)« zu, und die evangelische Kirche spielt dabei keineswegs nur die Rolle der »moralischen Institution« mit der Funktion einer »identitätsstiftenden Konfession«, sondern hat ebenso »Vorbildfunktion in der Krise«. Statt eines Fazits schloss Born mit Fragen, die die Tagung im Fortgang bestimmten: »Wie verwundbar ist eigentlich die Kirche im Schrumpfungsprozess?« und »Wie resilient sind kirchliche Strukturen und Angebote?«
Am Nachmittag fanden mehrere Workshops statt. Tobias Schüfer, Regionale Studienleitung für die Vikarsausbildung in der EKM, diskutierte mit Teilnehmern der Tagung über »Kirche auf dem Land als Thema der Vikarsausbildung«. Auf Ebene der Landeskirche(n) wird die Situation von Pfarrerinnen und Pfarrern im ländlichen Raum intensiv diskutiert auf den sog. »Landkonferenzen« in Gotha und Nordheim sowie der »Internationalen Predigerseminar-Konferenz«. Die Vikare werden auf den Dienst in der Peripherie im Predigerseminar vorbereitet durch spezielle »Landwochen«, die in der EKM und in der nordelbischen Kirche angeboten werden.
Mit einer Podiumsdiskussion, an der unter anderem Jürgen Schilling (EKD) und Regionalbischof Christoph Hackbeil (Magdeburg) teilnahmen, schloss die Tagung. Gastgeber Prof. Dr. Domsgen stellte noch einmal die »Bedeutung der religiösen Bildung in der Peripherie« heraus. Angesichts dessen, dass 90 % der Schulabsolventen innerhalb der folgenden zehn Jahre nach Schulabschluss aus Dörfern in der Altmark abgewandert sind, wie eine Studie belegt, sind junge Erwachsene mancherorts kaum anzutreffen. Religiöse Bildung sollte sich von daher nicht auf Kinder und Jugendliche reduzieren, sondern die im wahrsten Sinn des Wortes zurückgebliebenen Erwachsenen ebenso in den Blick nehmen. Die religionspädagogische Funktion von Kirche, also die religiöse Bildung, Erziehung und Sozialisation von Menschen, ist ein Thema, das vornehmlich im Kontext vorherrschender Konfessionslosigkeit dringend einer weiteren wissenschaftlichen Aufarbeitung bedarf. Dieser Aufgabe hat die Tagung mit Erfolg entsprochen.

Dr. Ekkehard Steinhäuser
Forschungsstelle Religiöse Kommunikations- und Lernprozesse
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg