01.02.2013

»Praktische Theologie als ›Erziehungslehre‹. Friedrich Niebergall in Marburg 1922 bis 1932« Tagungsbericht von dem Symposium aus Anlass des 80. Todestages von Friedrich Niebergall am 03.11.2012 am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg

Das angezeigte Symposium nahm das Werk und Wirken Friedrich Niebergalls in Marburg unter drei Perspektiven in den Blick: Zunächst ging es um den institutionellen und biographischen Kontext, dann um Aspekte des praktisch-theologischen Werkes und schließlich um Wirkung und Ertrag seines Denkens.

Jochen-Christoph Kaiser (Marburg) eröffnete die Vorträge mit dem Thema »Die theologische Fakultät Marburg 1918–1933. Theologische Profile und Richtungskämpfe«. In einem weiten Bogen von Moritz dem Gelehrten über die Aufhebung des Bekenntniszwangs durch die preußische Annexion bis hin zur Weimarer Republik zeigte Kaiser auf, dass die Fakultät oft von konfessionellen Streitigkeiten geprägt war und nicht selbst über Neuberufungen bestimmen konnte.
David Käbisch (Marburg) beschrieb anschließend »Niebergalls Berufung an die Theologische Fakultät in Marburg« als eine »Sozialpädagogisierung« der Praktischen Theologie. Käbisch griff dazu u. a. auf unveröffentlichte Briefe des damaligen Dekans Rudolf Otto zurück, in denen deutlich wird, dass die genuinen Inhalte der Praktischen Theologie nicht allein ausschlaggebend für die Berufung waren.
Bernd Schröder (Göttingen) sprach zu »Niebergalls Religionspädagogik in seinen Marburger Jahren«. Entgegen der damals hochaktuellen Religionspsychologie konzentrierte sich Niebergall auf Wertpsychologie und emotionales Denken. Anders als vielfach konstatiert, ist sein Vorgehen nicht primär am Kinde orientiert, sondern richtete sich an dogmatischen Prämissen aus.
»Die Bibel als unerschöpfliches Bergwerk und Schatzkammer christlich-religiöser Persönlichkeitsentwicklung« war das Thema von Martina Kumlehn (Rostock). Niebergall hat keine Bibeldidaktik im eigentlichen Sinne erarbeitet, aus seinem Werk lässt sich jedoch ersehen, dass es ihm um persönliche Zugänge und ein Wechselverhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, Schrift und aktuellem Leben ging.
Tobias Sarx (Marburg) präsentierte Niebergalls Kirchenbegriff und das Verhältnis von »Volkskirche und Volkserziehung« anhand der zwei Bände umfassenden Praktischen Theologie, die 1918 und 1919 erschien. Die Auffassung, dass sich der Kirchenbegriff Niebergalls nach 1918 nicht verändert habe, überprüfte Sarx und zeigte, dass es sehr wohl zu Anpassungen an die neue gesellschaftliche Situation kam.
Tobias Braune-Krickau (Marburg) stellte »Friedrich Niebergalls apologetische Zeitdiagnostik in seiner Schrift ›Im Kampf um den Geist‹ (1927)« dar. Im Gegenüber zum wenige Jahre zuvor in Marburg entstandenen Werk ›Die religiöse Lage der Gegenwart‹ von Paul Tillich erscheint Niebergalls Schrift als argumentativ ausbaufähig, sie wirkt undifferenziert, da er sich u. a. an den Klassikern der Religionskritik abarbeitet, statt die Religionskritik der Gegenwart zu analysieren.
Bernd Dressler (Marburg) resümierte das Tagungsthema: »Die Kirche als ›Erziehungsanstalt‹ und Bildungsinstitution«. Er kam dabei zu einem ambivalenten Ergebnis: Während die theoretischen Überlegungen teilweise hinter den Erkenntnissen der Zeit zurückbleiben, wartet der praktische Religionsunterricht ebenso wie die bibeldidaktischen Hinweise mit erstaunlich modern anmutenden Qualitäten auf.

Das Symposium bot weiterführende Einblicke in das Wechselverhältnis von Personen-, Fach- und Fakultätsgeschichte. Durch die Vorträge und Diskussionen wurde zudem deutlich, dass Niebergall als Praktiker große Stärken vorzuweisen hatte und in einzelnen Punkten seiner Zeit voraus war. Umgeben von Kollegen wie Rudolf Otto, Rudolf Bultmann und Paul Tillich vermochte er jedoch nicht zu glänzen, und neben mangelnder Innovationskraft fehlt es mancher Schrift auch an den nötigen Aufnahmen dessen, was andere bereits gedacht hatten. Gleichwohl zählt Niebergall zu den Klassikern der Praktischen Theologie und Religionspädagogik, da er Probleme erkannt und bearbeitet hat, die noch heute beschäftigen.
Der Tagungsband, der um weitere Beiträge zur Rezeptionsgeschichte (u. a. von Rainer Lachmann, Henrik Simojoki und Ulrike Wagner-Rau) erweitert werden wird, verspricht weiterführende Einblicke in das Wechselverhältnis von Personen-, Fach- und Fakultätsgeschichte.

Marburg/Kassel
Maike Westhelle