11.06.2019

»Predigt und Erbauung – Interdisziplinäre Perspektiven« – Nachwuchstagung vom 4. bis zum 5. April 2019, Philipps-Universität Marburg. Tagungsleitung: Jan Hofmann, Mirjam Sauer, Aline Seidel

Tagungsbericht: Jan Hofmann, Mirjam Sauer, Aline Seidel

Der Erbauungsbegriff ist in der Geschichte der protestantischen Theologie eng mit der Gattung der Predigt verbunden. Ab dem 17. Jahrhundert avancierte er zu einem zentralen Begriff der Homiletik und zielte insbesondere auf die Innerlichkeitsdimension von Religion ab. Trotz unterschiedlicher Nuancierungen blieb sein prinzipieller Stellenwert bis in die Moderne unbestritten. In der Gegenwart spielt der Begriff indes weder in der Homiletik noch in anderen theologischen Disziplinen eine nennenswerte Rolle. Neuschöpfungen wie ›Oikodomik‹ oder ›Gemeindeaufbau‹, die den Ausdruck Erbauung mitunter ersetzen sollen, verengen die charakteristische Weite des Erbauungsbegriffs dadurch, dass sie nur Teilaspekte aufgreifen.
Hier setzte die Tagung Predigt und Erbauung. Interdisziplinäre Perspektiven an. Die Vielschichtigkeit dessen, was begrifflich und konzeptionell unter Erbauung verstanden werden kann, zeigten die unterschiedlichen Disziplinen entstammenden Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler vor allem an historischen Predigten. Beteiligt waren Theologinnen und Theologen sowie Geschichts- und Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, von denen einige dem 2017 gegründeten Marburger Arbeitskreis Systematisch-Theologische Predigtforschung angehören. Gerahmt wurden die Vorträge des wissenschaftlichen Nachwuchses von zwei Keynotevorträgen und abschließenden Tagungsbeobachtungen.
Den Auftakt bildete Prof. Dr. Claus-Dieter Osthövener, der in seiner Keynote anhand der theologiegeschichtlichen Stationen um 1700, 1800 und 1900 das begriffs- und problemgeschichtliche Tableau entfaltete. Er zeigte auf, dass dem Bedürfnis nach Erbauung nicht zuletzt durch die Überschreitung von Grenzen – sprachlicher, konfessioneller und religiöser Natur – Rechnung getragen wurde. In konstruktiver Aufnahme dieses grenzüberschreitenden Aspekts plädierte er dafür, dem Begriff der Erbauung wieder ein klares Profil zu verleihen.
Melanie Hein beleuchtete in ihrem literaturwissenschaftlich fokussierten Beitrag den Prozess der Ästhetisierung von Predigt und Erbauung im Übergang von der Aufklärung zur Romantik. Am Beispiel von Karl P. Moritz analysierte sie das Verständnis von Predigt als sprachlichem Kunstwerk. Eine solche poetisierte Predigt erziele ihre erbauliche Wirkung vor allem durch den Einbezug der Einbildungskraft.
Aus praktisch-theologischer Perspektive griff Dr. Johannes Greifenstein den Erbauungsbegriff auf. Erbauung könne als Intensivierung des Glaubens von Zuhörerinnen Zuhörern und Predigerinnen und Predigern gleichermaßen verstanden werden – normative inhaltliche Vorgaben müssten jedoch vermieden werden. Dergestalt sei die Kategorie der Erbauung noch immer geeignet, als Wesen und Prinzip der Predigt zu fungieren.
Es folgten sechs Vorträge, die sich den Predigten einzelner Theologen widmeten. Judith Dieter sprach über den Aufklärungstheologen Johann J. Spalding. Wie die Frühaufklärung verstehe auch Spalding Erbauung als Belehrung des Verstandes und Besserung des Herzens. Das Urteil darüber, was als erbaulich gelten könne, sei aber Sache des Einzelnen. Hervorzuheben sei bei Spalding das Verständnis des Predigers als Freund der Gemeinde.
Die Epoche der Aufklärung war auch Gegenstand des Vortrags von Jan Hofmann, der den Einfluss englischer Erbauungsliteratur auf die deutsche Aufklärungstheologie nachzeichnete. Die für die englische Literatur typische Form der Plausibilisierung durch affektiven Nachvollzug, so die These, wurde in Deutschland um 1750 rezipiert und als Moment religiöser Mündigkeit radikalisiert.
Sebastian Rink analysierte den Erbauungsbegriff in den Predigten Friedrich D. E. Schleiermachers. In seiner Vieldeutigkeit gewinne der Begriff dort vor allem die Funktion, zwischen Individuum und Kirche sowie zwischen subjektiver Erfahrung und verobjektivierter Schrift zu vermitteln, und sei damit geeignet, religiöses Leben abzubilden.
Gegenstand des Vortrags von Megan Arndt waren die Predigten Ralph W. Emersons. Emerson ziele vor allem auf den Aspekt des Innehaltens bzw. der Einkehr ab. Quelle der Erbauung sei hier insbesondere die Naturbetrachtung. Mittels dieser individuellen Erbauung werde der Mensch für das Wirken in Gesellschaft und Gemeinde gestärkt.
Am zweiten Tag folgten zunächst zwei weitere Fallstudien. Kristian Geßner sprach über die Predigten Rudolf Bultmanns. Die Entmythologisierung des Neuen Testaments könne nach Bultmann erbauliche Wirkung entfalten, weil dem modernen Menschen damit die in den biblischen Texten enthaltene Anrede Gottes allererst zugänglich wird.
Aline Seidel legte dar, dass Erbauung in den drei von Paul Tillich herausgegebenen Predigtbänden als philosophische Reformulierung der lutherischen Rechtfertigungslehre vermittelt wird. Tillichs Predigten handeln vorrangig von der von Gott entfremdeten Existenz in ihren zeitgeschichtlichen Bezügen, auf die korrelativ bezogen die erfahrbare Kraft des erlösenden und heilenden Neuen Seins wirkt.
Im zweiten Keynotevortrag schlug PD Dr. Martin Fritz den Bogen zur Gegenwart und nahm den Begriff der Erbauung aus systematisch-theologischer Perspektive in den Blick. Er legte dar, dass liberale Frömmigkeit eine besondere Gestalt von Religion darstellt, die sich zwischen vernunftgeleiteter Erkenntnis und gefühlshafter Unbestimmtheit sowie zwischen Partizipation und Distanzierung gegenüber dem traditionellen Christentum bewegt. Auf Erbauung – im Sinne der Belebung religiöser Innerlichkeit – sei die so verstandene Religion in eminenter Weise angewiesen.
Auf der Grundlage der Beiträge skizzierte Prof. Dr. Miriam Rose in ihren Tagungsbeobachtungen abschließend drei Dimensionen von Erbauung: die individuelle Erbauung zur Stärkung der Innerlichkeit und Glaubensbildung, die intersubjektive Erbauung zur Besserung der Mitmenschen und die kollektive Auferbauung der Gemeinschaft. Erbauung sei somit als ein integratives, individualitätsorientiertes Konzept zu verstehen, das sich im Zusammenspiel von In-sich-Gehen und Nach-außen-Wirken oft in ästhetischer Grundierung ereigne. Zukünftige Forschungsperspektiven sah sie unter anderem in der materialdogmatischen Einordnung des Erbauungskonzeptes und hinsichtlich nicht-sprachlicher Formen von Erbauung. Besonders könne und müsse gefragt werden, ob im 21. Jahrhundert neue Funktionen von Erbauung zu beobachten und herauszuarbeiten wären.



Programm

Donnerstag, 4. April 2019

Begrüßung
Dr. Mirjam Sauer (Gießen)

Keynote 1
Prof. Dr. Claus-Dieter Osthövener (Marburg): Erbauung und Avantgarde. Ein unvollendetes Projekt in drei Aufzügen.

Melanie Hein (Marburg): Predigt-Literatur – Religiöse Reden in poetischem Gewand. Versuch einer literaturwissenschaftlichen Gattungsbestimmung.

Dr. Johannes Greifenstein (München): Erbauliche Predigt. Praktisch-theologische Perspektiven.

Judith Dieter (Gießen): Erbauung bei J. J. Spalding.

Jan Hofmann (Marburg): Aufklärung durch Erbauung. Die englische Erbauungsliteratur in der deutschen Aufklärung.

Sebastian Rink (Marburg): »Durch den Inhalt erbaut und in Gottseligkeit gefördert.« Erbauung in Schleiermachers Predigt.

Megan Arndt (München): »Before God we are solitary unrelated men.« Das Verhältnis von Individuum, Gemeinde und Gemeinschaft in den Predigten Ralph Waldo Emersons.


Freitag, 5. April 2019

Kristian Geßner (Marburg): Rudolf Bultmann. Auf dem Weg zu einer entmythologisierten Erbauung.

Aline Seidel (Marburg): »You are accepted.« Paul Tillichs Predigten über die von Gott entfremdete Existenz und die erlösende Kraft des neuen Seins.

Keynote 2
PD Dr. Martin Fritz (Neuendettelsau): Liberale Frömmigkeit und Erbauung.

Tagungsbeobachtungen
Prof. Dr. Miriam Rose (Jena)