Buch des Monats: März 2020

Stephan Horst

Luther in den Wandlungen seiner Kirche

2. Aufl., neu bearb. und bis zur Gegenwart fortgeführt. Berlin: Alfred Töpelmann 1951. 135 S. Kart. EUR 109,95

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Der Kirchenhistoriker und Systematische Theologe Horst Stephan (1873–1954) zählte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den bedeutendsten Vertretern des liberalen Protestantismus. Aus dem seit 1899 versehenen Schuldienst wechselte er 1906 in das akademische Lehramt, das er nacheinander an den Universitäten Marburg, Halle und Leipzig versah. Neben seiner intensiven fachwissenschaftlichen Publikationstätigkeit machte sich Stephan auch wissenschaftsorganisatorisch verdient, zumal als Mitherausgeber der zweiten Auflage des Handwörterbuchs »Die Religion in Geschichte und Gegenwart« (1927–1932) sowie als geschäftsführender Herausgeber der nach kriegsbedingter Unterbrechung seit 1920 wieder fortgeführten, 1938 aufgrund von Abonnentenschwund erneut pausierenden »Zeitschrift für Theologie und Kirche«. Seine positionelle Unabhängigkeit bürgte für souveräne wissenschaftliche Qualität und trat auch darin zu Tage, dass Stephan, obschon er den Nationalsozialismus entschieden ablehnte, gegenüber den Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche in Äquidistanz verharrte.
Wenn man von den beiden Schleiermacher und Herder gewidmeten akademischen Qualifikationsschriften absieht, weist die Liste der von Stephan publizierten Monographien einen bezeichnenden Rahmen auf: Als Privatdozent veröffentlichte er 1907 den Band »Luther in den Wandlungen seiner Kirche«, und sein letztes, bereits im Schatten finaler Erkrankung entstandenes Buch bot davon die zweite, durchgehend neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Diese Studie stellt ein höchst beachtenswertes Pilotprojekt dar, dem bislang zwei andersgeartete Darstellungen nachfolgten: Ernst Walter Zeeden präsentierte 1950/52 einen zweibändigen Abriss der deutschen Lutherrezeption (»Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums«), der allerdings konsequent prosopographisch verengt war und sich auf die Zeit bis 1800 beschränkte. Und Heinrich Bornkamm publizierte 1955 ein »geistesgeschichtliches Lesebuch«, das über Stephan hinausgehend auch noch, wenngleich nur sporadisch, die katholische Lutherrezeption einschloss (»Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte«, 2. Auflage 1970); beide Folgeausgaben waren um einen ausführlichen Text- und Dokumentationsteil bereichert.
Demgegenüber kommt Stephan, auch wenn er auf den Abdruck von fragmentierten Quellenauszügen verzichtet, unbestreitbar das genuine Urheberrecht zu. Seine unvermeidliche Orientierung an personalen Rezeptionsträgern wird durch die Einbeziehung strukturgeschichtlicher Konstellationen sachdienlich bereichert und relativiert. In der Ausgabe letzter Hand hat er die Kapitel zur Reformationszeit und zur lutherischen Orthodoxie deutlich gekürzt, jedoch für das 19. und 20. Jahrhundert – das letztere ließ er 1951 unter dem Titel »Jahrhundert der Krisis« firmieren – essentielle Ergänzungen eingebracht. Indem er den alten Text durchweg überarbeitete, ergänzte und aktualisierte, ist daraus im Grunde ein ganz neues Buch entstanden, das die frühere, aus einer gymnasialen Aktusrede geborene, darum eher populär gehaltene Darstellung in konsequent wissenschaftliche Sprach- und Argumentationsgestalt überführte. Reformationszeit, altprotestantische Orthodoxie, Pietismus und theologische Aufklärung werden darin weithin rhapsodisch, freilich durchweg in kluger Pointierung, behandelt, umso eindringlicher sehen sich danach Deutscher Idealismus, Klassik und Romantik, ferner das auch die wissenschaftliche Lutherforschung initiierende 19. Jahrhundert sowie die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Luther geleistete Arbeit gewürdigt, und dies nicht etwa nur in der Fokussierung auf Stimmen der protestantischen Kirche und Theologie, sondern urteilssicher und kenntnisreich auch im Ausgriff auf philosophische, belletristische und bildnerische Rezeptionen des Reformators.
Die »Einleitung« pointiert die aktualitätsträchtige historische Absicht des Buches unmissverständlich: Stephan »will zeigen, wie Luther als Riese durch die Jahrhunderte der Zwerge schreitet und noch unsere Gegenwart in Atem hält«, und setzt sich angesichts der mannigfachen Vereinnahmungen des Reformators der Frage aus, »wie wir selbst dem Schicksal entrinnen können, Luther nach unserem Wohlgefallen zu stilisieren« (1). Den relativ knappen Umfang der Studie rechtfertigt er mit einem Satz, dessen Gültigkeit seitdem keinen Abbruch erlitten hat: »Wir stehen in einer Zeit, die kurzer Bücher bedarf« (5).
Am Ende dieser tiefenscharf ausleuchtenden historischen Analyse kommt Stephan zu dem Resultat, die unterschiedlichen Lutherbilder aus Vergangenheit und Gegenwart verweigerten sich einer nivellierenden Harmonisierung und einer teleologischen Gesetzmäßigkeit gleichermaßen: »Sie sind nicht Glieder einer regelmäßig verlaufenden Kette, auch nicht schrittweis vorwärts führend, von fester Tradition geleitete Weiterentwicklungen eines ursprünglichen Bildes zu wachsender Treue und Klarheit. Sie sind vielmehr jeweils neue Gebilde, geboren aus neuer Begegnung mit dem zeugenden Urbild, sind Spiegelungen seiner Gestalt in verschieden tiefen und verschieden farbigen Wassern« (127). Einen »gewissen Fortschritt« mag er allenfalls in der dabei sich einstellenden kontinuierlichen Erweiterung des Wissensspektrums erkennen (vgl. 128). Mit dem letzten Satz deutet Stephan die persönliche Gottesgewissheit Luthers als den Ausweis seines zeitüberlegenen Prophetentums: »Es spricht aus der totalen (obschon beständig angefochtenen, schwankenden) Gottbezogenheit seines persönlichen Lebens und aus der Vollmacht, mitten in den Wandlungen des irdischen Getriebes das in der Bibel gehörte ewige Wort Gottes immer aufs neue gegenwartsmächtig zu verkündigen« (132).
Beide Auflagen empfingen in der »Theologischen Literaturzeitung« kräftiges Lob. Dem Erstling attestierte Walther Köhler neben seiner materialen Reichhaltigkeit hohe gestalterische und sachliche Kompetenz: »Formell ist es gewandt geschrieben, die Zitate sind treffend ausgewählt, transparent leuchtet aus ihnen die Weltanschauung der betr[effenden] Epoche hindurch. […] Die Grundlinien […] des in seinen Zentralgedanken wohl gelungenen Buches […] sind richtig gezogen« (ThLZ 33, 1908, 493–496). Und für die zweite Auflage konstatierte Ernst Wolf anerkennend: »Das Urteil ist […] stets sorgfältig abgewogen, die Buntheit des Bildes recht anschaulich betont, und zwar nicht nur, soweit es von Theologen gestaltet ist, sondern auch in einem größeren kulturgeschichtlichen Rahmen. […] Im ganzen wie im einzelnen eine sehr anregende Studie, die dazu helfen kann, innerhalb einer vielschichtigen ‚Lutherrenaissance‘ wegweisende Ortsbestimmungen vorzunehmen« (ThLZ 79, 1954, 619 f.).
Indem das Buch hiermit zum dritten Mal in der »Theologischen Literaturzeitung« annonciert wird, soll das Jugend- und Alterswerk von Horst Stephan als aussichtsreicher Kandidat für eine neu zu etablierende, historisch-kritisch kommentierte Reihe »Vergessene Pioniertexte der Kirchengeschichte« empfohlen sein.

Albrecht Beutel (Münster/Westf.)

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