Book of the month: January 2013

Martin Walser

Das dreizehnte Kapitel.

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012. 272 S. 21,0 x 13,0 cm. Geb. mit SU. EUR 24,95. ISBN 978-3-498-07382-4.

In Goethes „Werther“ fand die Gattung des Briefromans ihre klassische Konkretion. Nun hat Martin Walser die Geschichte dieser vital gebliebenen literarischen Form eindrucksvoll, vielschichtig und beziehungsreich fortgeschrieben. Sein jüngster Roman „Das dreizehnte Kapitel“ erzählt das Glück und Verhängnis einer außergewöhnlichen Liebe. Sie realisiert sich zwischen dem im Zenit seines Ruhmes stehenden Schriftsteller Basil Schlupp und der in Berlin lehrenden 44-jährigen Professorin der Theologie Maja Schneilin. Beide leben in einer langjährigen, kinderlosen, fortwährend als gut und sogar ideal beschworenen Ehe: sie mit dem deutlich älteren Molekularbiologen und Nobelpreisträger Korbinian Schneilin, er mit der etwa gleichaltrigen, literarisch ambitionierten Drehbuchautorin Iris Tobler.
Als Tischgenossen an einem Galaabend, zu dem der Bundespräsident, dem Nobelpreisträger zu Ehren, geladen hatte, lernen sich Basil und Maja zufällig kennen. Während sie von ihm kaum Notiz nimmt, ist er sogleich hingerissen: Die ganze Ausstrahlung dieser Frau und jedes Detail ihrer Erscheinung – „Ihre Nase entspringt spektakulär zwischen den Augen und führt in einer landrückenhaften Ruhe nach unten“ (68 f.) – schlagen ihn ausweglos in den Bann. Nicht lange nach diesem Abend im Schloss Bellevue unterbreitet Basil der Frau, die ihn so umfassend fasziniert hat, in kühner, offenherziger Briefzuschrift seine „nicht bestellten Gefühlsangebote“ (28): „Ich bin ein anderer. Und das durch Sie“ (29). Erstaunlicherweise antwortet Maja mit einem ebenso freimütigen, langen Schreiben. Der Briefwechsel setzt sich fort, nimmt rasch an Fahrt auf und entfaltet ein sich stetig dynamisierendes Crescendo der Vertraulichkeit, in dem bald auch der das jeweilige Eheleben bloßlegende „Verrat“ hingebungsvoll zelebriert wird. Die beiderseits mehrfach beschworene Fiktion, man werde „irgendwann, in unvorstellbarer Zukunft, [...] zu viert ein Ende der Verrats-Epoche“ (99) feiern, dient zur fadenscheinigen Selbstbeschwichtigung. Bald kennt die Liebe keine Grenzen mehr, Maja grüßt den „Liebe[n] Liebste[n]“ als „Deine Vertraute“ (160), und Basil antwortet als „Dein Dir ganz und gar Gehörender“ (160). Nach der jäh einbrechenden Beziehungskatastrophe lässt sich das Verhältnis wieder annähernd restituieren, eilt dann aber, spürbar unaufhaltsam, seinem schrecklichen Ende entgegen.
Diese Liebesgeschichte, die Walser meisterhaft zu erzählen weiß, ist durchwoben von theologischen Stoffen, Motiven und Konfigurationen und dazu durchweg in konfessioneller Komplementärtönung koloriert: sie eine engagierte protestantische Hochschuldozentin, er ein ziemlich säkularisierter Kulturkatholik. Seit ihrem ersten Antwortbrief speist Maja immer wieder Theologisches ein, und Basil responiert voller Dankbarkeit für die „erbarmungslos-schönen Religions-Schluchten“ (77), die sich ihm dadurch eröffnen und ihm die Vorstellung nähren, im Grunde sei man doch „eine Fakultät“ (101) und habe „einen Beruf“ (112): beiderseits „Dekorateure des Nichts“ (112). Den Vornamen ihres Briefgeliebten allegorisiert Maja zu einer Wesensanalogie mit dem großen Basilius von Caesarea (113) und zitiert, einschlägig anverwandelt, „unser[en] heilige[n] Kierkegaard“ (52) und Martin Luther (160). Als absolute, kritiklos verehrte Autorität steht freilich Karl Barth über allen: Maja kann schlechterdings „kein Fehl an ihm“ (158) finden, nennt ihn, als den „Lehrer aller Lehrer“ (36), ergeben „mein Meister“ (105) und übertreibt ihn zum „grössten Theologen des 20. Jahrhunderts“ (72). Kernsätze aus Barths Theologie mutieren zu Ermächtigungsgarantien der eigenen Liebesaffäre, beschworen wird ebenso die Einsicht, man könne „nur ohne Hoffnung auf Hoffnung hin glauben“ (74), wie das expressionistische Pathos der Maßgabe, jederzeit „voraussetzungslos zu denken, zu fühlen, zu schreiben“ (120), oder das „Konkretissimum der Gnade“, das Maja, trunken vor Liebe, in der eigenen leidenschaftlichen Affäre erkennt. Schließlich entdeckt sie den unlängst publizierten ersten Band des zwischen Karl Barth und seiner Geliebten Charlotte von Kirschbaum geführten Briefwechsels, aus dem sie emphatisch, als wären es eigene Sätze, immer wieder Passagen in ihren mit Basil unterhaltenen Briefwechsel übernimmt.
Im Übrigen ist auch Biblisches allenthalben präsent, mehrfach der leidende Christus (77. 208-210), dazu der Hauptmann von Kapernaum (148), der Jüngling zu Nain (148) oder der Wehe-Ruf aus Lk 6,25 (37). An der Spitze rangiert freilich Paulus, dieser „raffinierteste Apostel überhaupt“ (53), dessen Briefe in Majas Briefen vielfach zu legitimatorischer Selbstmunitionierung genutzt werden, etwa mit dem Mahnwort aus Röm 2,1 (105), der in 2Kor 12 geführten Narrenrede (53) oder der am selben Ort entwickelten Dialektik von Schwachheit und Stärke (53. 111) oder auch, nun von Basil zitiert, dem in 1Kor 7,29f. ausgeführten Entwurf einer Als-ob-Existenz (168).
Zur Komplexität der Lage, die Walsers Briefroman auslotet, gehört nicht zuletzt, dass die Ehepartner der beiden Liebenden ihrerseits, halb versteckt, amouröse Außenbeziehungen unterhalten: Korbinian Schneilin in homophiler Verfallenheit an den selbstherrlichen Kraftmenschen Ludwig Froh, und Iris Tobler, die Gattin Basils, in niemals ganz gelöster innerer Bindung an Beatus Niederreither, der einst ihre erste große Liebe gewesen war und der nun, durch Krankheit an den Rollstuhl gefesselt, von ihr regelmäßig betreut wird. Am Ende, in plötzlicher Wendung, entziehen sich für Iris Tobler und Basil Schlupp nahezu gleichzeitig die jeweiligen Außenposten der Liebe: Beatus und Maja. In ihrer stillen Trauer verbrennt Iris die Manuskriptseiten des Romans, an dem sie, vor Basil verborgen, schon lange gearbeitet hat, im Kamin. Der Titel des Buches, das mit dem Abgang des heimlich Geliebten ebenfalls nichtig geworden ist, hätte lauten sollen: „Das 13. Kapitel“ (266). Die Dechiffrierung der Überschrift wird nicht vollzogen, doch sie liegt auf der Hand: Wer wollte, zumal nach der dichten apostolischen Zitation, die vorausgegangen war, noch daran zweifeln, dass dieser Titel als kaum verhohlener Fingerzeig auf den Liebeshymnus, den Paulus im 13. Kapitel des ersten Korintherbriefs anstimmte, zu lesen ist? Ganz zuletzt, „plötzlich vom Leben ergriffen“ (266), erbittet sich Basil den Titel des verbrannten Manuskripts zum Geschenk, und Iris willfährt ihm. Als könnte dadurch mit ihrer Ehe nun zugleich das 13. Kapitel gerettet sein: „Die Liebe höret nimmer auf“ (1Kor 13,8a).
Der neue Briefroman Martin Walsers ist, gerade auch in seiner unaufdringlichen, doch allgegenwärtigen religiösen Grundierung, ein großes Stück Literatur. Nachhaltig soll er zur Lektüre empfohlen sein und darüber hinaus, wenn sich ein ebenbürtiger Hermeneut finden lässt, zu gründlicher theologisch-literarischer Interpretation.

Albrecht Beutel (Münster/Westf.)

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