Buch des Monats: Januar 2024

Heinze-Greenberg, Ita

Zuflucht im Gelobten Land. Deutsch-jüdische Künstler, Architekten und Schriftsteller in Palästina/Israel.

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Theiss 2023. 320 S. Geb. EUR 29,00. ISBN 9783806245660.

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Als ich Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Jerusalem studierte, gab es in der Fußgängerzone noch ein Café namens »Atara« (zu Deutsch: »Krone«), in dem die Ehefrauen der vor dem Nationalsozialismus aus Deutschland geflüchteten »Jeckes« ihre Männer abgaben, um in Ruhe den Wochenendeinkauf zu erledigen. Es handelte sich um ein 1936 gegründetes klassisches Kaffeehaus, in dem Zeitungen auslagen, in dem geraucht werden konnte und man stundenlang sitzen, lesen oder sich unterhalten konnte. Es war erkennbar nach dem Vorbild eines Berliner, Frankfurter oder Münchener Kaffeehauses gestaltet und sollte die Kundschaft auch an Orte wie beispielsweise das Berliner »Josty« oder »Zuntz sel. Witwe« erinnern.
Ita Heinze-Greenberg, eine Architekturhistorikerin, die lange Jahre in Israel gelebt hat, portraitiert in ihrem gut geschriebenen und reichlich (mit schwarz-weißen Abbildungen) illustriertem Band das aus Deutschland geflüchtete Judentum in Israel vor allem anhand von Personen. Sie nimmt die Schicksale deutsch-jüdischer Architekten wie Erich Mendelsohn, von Künstlerinnen wie Lea Grundig und Schriftstellerinnen wie Else Lasker-Schüler in den Blick, beschreibt aber auch die Modalitäten der Übersiedlung, die Verfolgung in Deutschland bis zuletzt, Schikanen wie die Reichsfluchtsteuer, die Schwierigkeiten, nach Palästina überzusiedeln und dort anzukommen und dann das Leben in einer gänzlich ungewohnten Umgebung. Das Register der behandelten Personen am Schluss umfasst dreizehn Seiten und es sind manche darunter, von denen ich noch nie gehört hatte oder die ich erst jüngst näher kennenlernte. Die Malerin und Graphikerin Lea Grundig, die 1949 in die DDR zurückkehrte und sich schon während der Weimarer Republik in der KPD engagierte und nach dem Kriege in der SED, war mir gänzlich unbekannt, steht aber repräsentativ für die jüdische Remigration, die Teil der Nomenklatura in der alten DDR war. Lea Grundig zählt – wie beispielsweise der Philosoph Hans Joas – zu den Menschen, die nur zeitweilig in das britische Mandatsgebiet Palästina flüchteten und dann wieder nach Amerika, Europa oder sogar Deutschland zurückgingen. Die Zahl der nach Deutschland Zurückgekehrten war allerdings verständlicherweise sehr gering. Übrigens kommt unter den vielen Persönlichkeiten, die Frau Heinze-Greenberg portraitiert, auch der jüdische Intellektuelle und Journalist Schalom Ben-Chorin vor. Er saß nicht nur während meiner erwähnten Studienzeit immer wieder Freitagvormittag im nämlichen Café »Atara« und wartete auf seine Frau, sondern erzählte bereitwillig von den Erfahrungen als zionistischer Jugendlicher in Deutschland und als Einwanderer in Palästina seit 1935.
Das Buch zeigt, dass in der scheinbar einheitlichen Gruppe der »Jeckes« ganz unterschiedliche Menschen gab, solche, die im angestammten Beruf weiter arbeiten konnten, aber auch solche, die sich mühsam ihr Brot als Hilfsarbeiter verdienen mussten. So sieht man beispielsweise unter den Abbildungen eine Zeitungsanzeige in deutscher wie hebräischer Sprache, die zeigt, wie viele aus Deutschland geflüchtete Architekten ein Büro betreiben und dafür in Zeitungen werben konnten. Der berühmteste war sicher der aus Berlin geflüchtete Erich Mendelsohn, der beispielsweise für den späteren ersten Staatspräsidenten Chaim Weizmann, mit dem er zusammen im Schiff über das Mittelmeer gefahren war, ein Haus in Form eines Schiffes in Rehovot baute, unweit von Tel Aviv. »Ein Bauhausschiff inmitten wogender Orangenbäume« (Thomas Sparr). Allerdings baute Mendelsohn auch die Universitätsklinik der Hebräischen Universität auf dem Jerusalemer Skopusberg und versuchte dort wie anderswo, orientalische Architekturelemente mit deutschem Bauhausstil zu kombinieren. So finden sich überall die aus der Jerusalemer Architektur vertrauten niedrigen Kuppeln auf den rechtwinkligen Gebäuden. »Bibel bauen« nannte das Mendelsohn.
Andere »Jeckes« hatten es wesentlich schwerer. Sie wollten ihren Lebens- und Kleidungsstil nicht ändern und dem Orient anpassen, hatten erhebliche Mühe, das gesprochene Hebräisch zu erlernen (Martin Buber wollte seine Antrittsvorlesung als Professor auf dem Skopusberg in einem an die biblische Sprache angenäherten Kunsthebräisch halten und musste den Text durch einen Lektor verbessern lassen). Das Klischee vom Straßenkehrer im Anzug war nicht nur leiser Spott, sondern oft bittere Realität. Amos Oz zitiert in seinen Erinnerungen seine Großmutter mit dem schönen Satz »Die Levante ist voller Mikroben«, mit dem sie ihre Gewohnheit, dreimal täglich heiß zu baden, begründete, um Bakterien abzutöten.
Frau Heinze-Greenberg beschreibt sehr anschaulich, wie die aus Deutschland geflüchteten Menschen in sehr unterschiedlicher Weise auf die im britischen Mandatsgebiet Palästina immer schwieriger werdenden politischen Verhältnisse reagierten. Bekanntlich stachelte insbesondere der von den Engländern eingesetzte Jerusalemer Großmufti, logistisch und finanziell von den deutschen Nationalsozialisten unterstützt, die Stimmung der arabischen Bevölkerung gegen die seit jeher im Land lebenden und die neu hinzugekommenen Juden an, deren Siedlungsplätze (oft in aller Einöde) ihnen von in Damaskus und anderswo lebenden arabischen Oligarchen verkauft worden waren. So kippte das jahrhundertelange weitgehend friedliche Neben- und Miteinander im Land und die aus Deutschland geflüchteten gerieten in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen mit Terroranschlägen, denen die britischen Mandatsbehörden mehr oder weniger hilflos zusahen. Auch im Blick auf diese politische Lage reagierten die »Jeckes« sehr unterschiedlich. Martin Buber votierte beispielsweise für die Aussöhnung mit den arabischen Einwohnern und lebte in einem arabischen Stadtviertel. Als Buber nach der Staatsgründung Israels aus diesem Viertel in Ost-Jerusalem nach West-Jerusalem fliehen musste, schickte ihm der arabische Hausbesitzer konspirativ den Teil seiner kostbaren Bibliothek nach, den Buber aus Deutschland gerettet hatte. Andere deutsche Juden hielten Bubers Interesse an einem gemischt-nationalen Staat angesichts der bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen für komplett naiv und ein typisches Zeichen eines weltfremden deutschen Akademikers, der zum Überleben mindestens die eigene Gattin braucht, vielleicht sogar noch eine Hausangestellte. Heftig umstritten war unter den Geflüchteten nach 1949 auch, ob man wieder Beziehungen in die alte Heimat pflegen sollte und Reparationsleistungen von der jungen Bundesrepublik annehmen dürfte. Als Martin Buber mit seinem Verleger in Jerusalem seine bis 1929 gemeinsam mit Franz Rosenzweig erarbeitete, sehr besondere und 1961 endlich abgeschlossene deutsche Bibelübersetzung präsentierte, bezeichnete sie Gershom Scholem als »das Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung« zwischen Deutschen und Juden. Sofort begannen im hauptsächlich von Deutschen bewohnten Jerusalemer Viertel Rehavia Bemühungen, den wegen dieser Einschätzung schwer verletzten Buber und Scholem an einen Tisch zu bringen (natürlich in einem Kaffeehaus) und wieder zu versöhnen. Das Buch schließt mit der Geschichte eines 1955 in Hamburg erbauten Turbinendampfers, das erste größere Schiff der betreffenden Werft nach dem Krieg, das als deutsche Reparationsleistung nach Israel geht.
Das Kaffee »Atara« gibt es übrigens längst nicht mehr, weil die erste Generation der »Jeckes«, die dort zu sitzen pflegte, natürlich längst gestorben ist. Aber ihre Nachfahren und alle, die sich in Jerusalem für diese Geschichte interessieren, treffen sich gern im 1967 eröffneten »Kadosh«, das auch sehr an ein europäisches Kaffeehaus erinnert, oder gleich im Österreichischen Hospiz, dem einzigen Wiener Kaffeehaus des Nahen Ostens in der Altstadt. Und auch die architektonischen Überreste eines Erich Mendelsohn sind zum Teil vom Abriss bedroht. Manches, wie die Universitätsklinik auf dem Skopusberg, wird vorzüglich gepflegt, anderes aber leider nicht. Zu den vom Abriss bedrohten Gebäuden zählt ausgerechnet das von Mendelsohn erbaute Wohnhaus des bibliophilen Warenhausbesitzers Salman Schocken (in der Jerusalemer Neustadt, direkt neben dem schwer bewachten Wohnhaus des Ministerpräsidenten). Schocken hielt seine deutschen Kaufhäuser, die meist auch von Mendelsohn errichtet waren, im Unterschied zu anderen Ketten, deren Eigentümerfamilien sich zur jüdischen Gemeinde hielten, am Schabbat und an hohen jüdischen Festtagen geschlossen. In einem eigens von ihm gegründeten Verlag publizierte er bibliophile Kostbarkeiten für geringen Preis und gründete auch in Palästina wieder einen Verlag, den noch heute bestehenden Schocken-Verlag. Hier erscheint immer noch eine Tageszeitung namens »Ha’Aretz«, wörtlich: »Das Land« (Israel), die Schocken 1937 kaufte, um sie nach dem Vorbild der »Frankfurter« und der »Vossischen Zeitung« zu einem Organ für bürgerliche Intellektuelle nach deutschem Vorbild zu entwickeln. Inzwischen gehören nicht geringe Anteil der Ha’Aretz-Gruppe übrigens einem Kölner Verlagshaus und nicht nur den Nachkommen von Salman Schocken.
Das Buch von Frau Heinze-Greenberg ist gut zu lesen, führt einem bewegende Schicksale vor, die in Zeiten, in denen sich in Deutschland Menschen wieder Gedanken über Deportation machen, nachdenklich machen. Die hier Portraitierten lassen es im Kontext unserer Tage besonders drängend erscheinen, dass möglichst niemand von ihnen vergessen wird. Die Lektüre dieses eindrücklichen Buches kann man auch deswegen nur herzlich wie nachdrücklich empfehlen.

Christoph Markschies (Berlin)

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